Süddeutsche Zeitung, (B) vom 07.05.2024, S. 13 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, München)
Rubrik im PS: | Gesundheitspolitik und Digitalisierung |
Autor: | Helmut Martin-Jung |
Auflage: | 133.119 |
Reichweite: | 371.402 |
Quellrubrik: | Wirtschaft |
DIGITALISIERUNG IN DER MEDIZIN
Datenschutz kann Leben kosten
Clemens Kill hat in seinem Arbeitsalltag keine Zeit zu verschwenden. Wenn Patienten schwer verletzt zu ihm in die Notaufnahme der Essener Universitätsmedizin kommen, kann jede Sekunde zählen. Kill, der die Einrichtung leitet, legt daher besonderen Wert darauf, dass sich seine Leute so wenig wie möglich damit beschäftigen müssen, Daten irgendwo manuell einzutragen – und das womöglich auch noch doppelt und dreifach. Er findet: "Wir schützen Daten besser als unser Leben."
Dass der Datenschutz, ob schlecht geregelt oder auch nur schlecht angewendet, Leben kostet, sieht auch der Deutsche Ethikrat inzwischen so – eine Institution, die wahrlich nicht im Verdacht steht, der vollen Datentransparenz das Wort zu reden und die Schleusen einfach zu öffnen. Es ist ja klar, dass Daten, die die eigene Gesundheit betreffen, so ziemlich das Letzte sind, das man öffentlich einsehbar haben will.
Worum es aber geht, ist die Art und Weise, wie medizinischer Fortschritt künftig erreicht werden kann. Biowissenschaften und Informatik spielen dabei wichtige Rollen. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und Quantencomputern hofft man, die Entwicklung etwa von neuen Medikamenten drastisch zu beschleunigen. Doch damit die Rechenmaschinen Muster erkennen können, braucht es Daten. Viele und gute Daten.
Deutschland müht sich aber schon damit, Rezepte nicht mehr auf Papier auszugeben. Wenn schon eine solche, vergleichsweise leichte Aufgabe – die in Schweden übrigens in den 1980er-Jahren erstmals in Angriff genommen wurde – nicht funktioniert, ist klar, dass es mit komplexeren Themen länger dauert.
Doch der Umgang mit Daten muss sich ändern. Dabei geht es um zwei Hauptthemen: erstens, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Beteiligten im Gesundheitswesen auf einen digitalen Weg umzustellen. Das gilt sowohl, wenn etwa ein Facharzt oder ein Krankenhaus mit der Hausarztpraxis kommuniziert, als auch intern. In den meisten Krankenhäusern können beispielsweise die Daten medizinischer Geräte nicht automatisch in eine digitale Krankenakte übernommen werden. Patienten erleben es oft, dass sie mehrmals Papierformulare mit denselben Daten ausfüllen müssen.
Zweitens muss ein Weg gefunden werden, Patientendaten so zu anonymisieren, dass keine Rückschlüsse auf Einzelpersonen möglich sind. Das ist nicht so trivial, wie es scheinen mag, sollte aber mit etwas Aufwand machbar sein. Diese Daten könnten dann wiederum viele Leben retten, wenn Forschende am besten europaweit Zugriff darauf hätten.
Natürlich machen gute Daten alleine noch keine gute Medizin. Dazu ist auch ein Gesundheitssystem nötig, das mehr Raum lässt für Empathie. So wie es in vielen Krankenhäusern derzeit zugeht, möchte man noch weniger gern krank werden als ohnehin schon. Assistenzärzte, die Nachtdienste schieben müssen bis zur Erschöpfung, weil alles auf Kante genäht ist, knappes Pflegepersonal – auch darunter leidet die medizinische Versorgung.
Die Krankenhaus-IT, in vielen Häusern ist sie oft ein Fiasko, weil die Systeme nutzerunfreundlich sind und die IT-Abteilungen chronisch unterbesetzt. Die vielen Systeme, auch die in ambulanten Praxen, verstehen sich nicht immer untereinander – wie soll man da eine gemeinsame Datenbasis aufbauen? Dass Deutschland lang ein digitales Entwicklungsland war, rächt sich nun auf vielen Gebieten, auch in der Medizin. Die Versäumnisse, die über Jahre und Jahrzehnte angehäuft wurden, werden umso teurer aufzuholen sein, je länger man damit wartet. Leidtragende sind die Patienten und das ärztliche Personal. Die Verantwortlichen im Bund und in den Ländern sollten daher ihre Bemühungen verstärken, einheitliche Standards zu entwickeln. Dabei sollte die Last nicht auf den Schultern von Ärztinnen, Ärzten und dem Pflegepersonal abgeladen werden. Sie sollen keine Systemverwalter sein, sondern sich um kranke Menschen kümmern.