1. Hans-Böckler-Stiftung |
Studie warnt vor zu langen Arbeitstagen Frankfurter Allgemeine Zeitung (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 26 Die damit mögliche Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf über zwölf Stunden "dürfte wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken", heißt es in einer Studie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. |
Abschied vom Acht-Stunden-Tag? Süddeutsche Zeitung, (B) (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 6 ● Auch in 1 weitere Quelle » Wissenschaftler des Hugo-Sinzheimer-Instituts, das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört, haben nun ausgerechnet, was der Plan von Union und SPD für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeuten könnte – und sie warnen vor den Konsequenzen. |
ESSAY Die Zukunft gehört nicht Elon Musk Süddeutsche Zeitung, (B) (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 22 ● Auch in 1 weitere Quelle » Das kann man mit Sebastian Dullien besprechen, dem wissenschaftlichem Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Obwohl er eher jene Nachfrageorientierung vertritt, die als Keynesianismus bekannt ist, gibt er zu: "Es ist richtig, dass man auf der linken Seite auf Effizienz achten muss. |
Inflation im Mai liegt bei voraussichtlich 2,1 Prozent Hamburger Abendblatt (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 2 ● Auch in 5 weiteren Quellen » "Die Inflation verharrte im Mai bei 2,1 Prozent, obwohl die Energiepreise etwas weniger stark dämpften", erklärte die Geldpolitik-Expertin des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, Silke Tobler. |
Ziel verfehlt: Teuerung bleibt bei 2,1 Prozent Leipziger Volkszeitung, Leipzig (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 7 ● Auch in 21 weiteren Quellen » Für Silke Tober vom gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut IMK ist diese Abschwächung entscheidend: "Im weiteren Jahresverlauf dürfte die Teuerungsrate um das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von 2 Prozent schwanken." |
Wochenarbeitszeit: Studie nennt Risiken Freie Presse Chemnitz (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 7 ● Auch in 11 weiteren Quellen » Die geplante Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit könnte nach Darstellung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu überlangen Arbeitstagen von bis zu 12 Stunden und 15 Minuten führen. Die Folgen wären Gesundheitsrisiken, mehr Krankheitstage und mehr Druck auf Familien, warnt eine Analyse des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Stiftung. |
Studie: Neue "Wochenarbeitszeit" bringt Zwölf-Stunden-Tage Saarbrücker Zeitung, Saarbrücken Regionalverband (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 7 Die geplante Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit würde nach Darstellung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu überlangen Arbeitstagen von bis zu zwölf Stunden und 15 Minuten führen. Die Folgen wären Gesundheitsrisiken, mehr Krankheitstage und mehr Druck auf Familien, warnt eine Analyse des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Stiftung. |
Studie kritisiert Bundesregierung Westdeutsche Allgemeine WAZ, Essen (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 10 Die damit mögliche Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf über zwölf Stunden "dürfte wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken", heißt es in einer am Freitag in Düsseldorf veröffentlichten Studie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. |
Ist Österreich ein Vorbild bei der Rente? Freie Presse Chemnitz (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 4 ● Auch in 2 weiteren Quellen » Florian Blank, Referatsleiter Sozialpolitik der Hans-Böckler-Stiftung, sagt: "Die Integration Selbstständiger in die Rentenkassen ist zwar kein Allheilmittel gegen den demografischen Wandel, und trotzdem kann die Ausweitung der Rentenversicherung sinnvoll sein." |
Rente Altersfragen: Mehr arbeiten oder doch investieren? nd Die Woche (Wochenzeitung) vom 02.06.2025 ● Auch in 1 weitere Quelle » Der Anteil der staatlichen Beiträge an den gesamten Einnahmen der Rentenversicherung war damals sogar höher als heute, hat das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in Düsseldorf errechnet. |
Studie: Pläne der Regierung könnten zwölf-Stunden-Arbeitstage ermöglichen n-tv Online am 30.05.2025 Die Einführung der Wochenhöchstarbeitszeit würde "faktisch nach Abzug der Mindestruhezeit von 11 Stunden und der entsprechenden Ruhepause von 45 Minuten eine tägliche Höchstarbeitszeit von 12 Stunden und 15 Minuten ermöglichen", geht aus der am Freitag veröffentlichten Kurzstudie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. |
Pläne zur Lockerung der Höchstarbeitszeit stoßen auf Widerstand n-tv Online am 30.05.2025 ● Auch in 1 weitere Quelle » Das im Koalitionsvertrag von Union und SPD angekündigte Vorhaben liefe darauf hinaus, tägliche Höchstarbeitszeiten von über zwölf Stunden zu erlauben, erklärte das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung am Freitag. |
Wochenarbeitszeit ermöglicht Zwölf-Stunden-Tage tagesschau.de am 30.05.2025 ● Auch in 13 weiteren Quellen » Die Bundesregierung will Unternehmen die Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit ermöglichen. Dies könnte laut Hans-Böckler-Stiftung zu Arbeitstagen von bis zu zwölf Stunden und 15 Minuten führen. |
Studie: Wochenarbeitszeit würde Zwölf-Stunden-Tage erlauben Zeit Online am 30.05.2025 ● Auch in 6 weiteren Quellen » Die geplante Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit würde nach Darstellung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu überlangen Arbeitstagen von bis zu zwölf Stunden und 15 Minuten führen. Die Folgen wären Gesundheitsrisiken, mehr Krankheitstage und mehr Druck auf Familien, warnt eine Analyse des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Stiftung. |
Auch Hans-Böckler-Stiftung kritisiert neue Wochenarbeitszeit-Pläne der Bundesregierung Deutschlandfunk Online am 30.05.2025 Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung warnt vor Gesundheitsrisiken. Einer Studie zufolge könne die Umstellung zu mehr Krankheitstagen und höherem Stress bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie führen. |
Deutschlandfunk Online am 30.05.2025 Beitrag zur HSI-Studie über Arbeitszeit- Deregulierung in Wirtschaft am Mittag, Deutschlandfunk-Hörfunk. |
Abschaffung des Acht-Stunden-Tags? Studie zeigt fatale Folgen der Merz-Pläne Münchner Merkur Online am 30.05.2025 ● Auch in 2 weiteren Quellen » Die damit mögliche Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf über zwölf Stunden "dürfte wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken", heißt es in einer am Freitag in Düsseldorf veröffentlichten Studie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. |
Neue Grundsicherung statt Bürgergeld: Wie viel Geld könnten Empfänger bald bekommen? Südkurier Online am 30.05.2025 Die Hans-Böckler-Stiftung kritisiert, dass bei der Berechnung der Regelsätze der Durchschnitt aller Konsumgüter einbezogen wird. Einzelne Güter, die nicht in besonderer Weise berücksichtigt würden, hätten sich demnach extremer entwickelt. Das gelte beispielsweise für den Strompreis und Nahrungsmittel. |
2. Gute Arbeit |
3. Herausforderungen der Globalisierung |
Besuch bei Trump Merz auf heikler Mission in Washington Handelsblatt (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 6-7 Der Bundeskanzler reist in die USA. Wird er hofiert oder bloßgestellt? Treffen mit Trump sind unkalkulierbar, aber Merz bringt Argumente mit, die dem US-Präsidenten gefallen dürften. |
EU-Kommission droht Trump mit Gegenmaßnahmen Frankfurter Allgemeine Zeitung (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 1 Die Europäische Kommission hat mit Unverständnis auf die von US-Präsident Donald Trump angekündigte Verdoppelung der amerikanischen Zölle auf Stahl und Aluminium reagiert. Das untergrabe die Bemühungen, eine Lösung des Streits am Verhandlungstisch zu erzielen, sagte ein Sprecher am Wochenende. |
4. Sozialpolitik |
Verbraucherpreise Deutsche Inflation nur knapp über EZB-Ziel Handelsblatt (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 28-29 In Deutschland geht die Teuerung leicht zurück. In Frankreich, Italien und Spanien liegt sie noch niedriger. Die Vorzeichen für den nächsten Zinsentscheid sind klar. |
Hitziger Streit über Verwaltungskosten der Sozialkassen Frankfurter Allgemeine Zeitung (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 19 Verdi wertet Arbeitgeber-Vorstoß als Attacke gegen den Sozialstaat / Krankenkassen: Streben nach mehr Effizienz. |
5. Gesamtwirtschaftliche Entwicklung |
HDE-Konsumbarometer Verbraucher haben Lust auf Aufschwung Handelsblatt (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 12 Die Stimmung der Konsumenten hat sich deutlich verbessert. Sorgen vor Jobverlust werden meist verdrängt. Bleibt die Frage: wie lange noch? |
6. Rahmenbedingungen der Demokratie |
Hans-Böckler-Stiftung |
Studie warnt vor zu langen Arbeitstagen Frankfurter Allgemeine Zeitung (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 26 |
Von epd.
DÜSSELDORF. Arbeitsrechtsexperten sehen die von der neuen Bundesregierung geplante Einführung einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit kritisch. Die damit mögliche Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf über zwölf Stunden "dürfte wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken", heißt es in einer Studie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Überlange Arbeitszeiten gefährdeten die Gesundheit der Beschäftigten, erhöhten das Unfallrisiko und verschlechterten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, warnten die HSI-Fachleute Amélie Sutterer-Kipping und Laurens Brandt. Zu befürchten sei eine Zunahme von stressbedingten Erkrankungen wie Burnout, Erschöpfungszuständen oder Schlaganfällen. Die Verschärfung der Probleme bei der Kinderbetreuung schränke vor allem die Erwerbsarbeit von Frauen ein.
Die Forschenden halten zudem den alleinigen Blick auf die gesunkene Jahresarbeitszeit pro Kopf für zu einseitig. Der Rückgang der Pro-Kopf-Jahresarbeitszeit hängt laut Studie mit den kontinuierlich gestiegenen Teilzeitquoten zusammen. "Die Entwicklung der Arbeitszeit zeigt, dass wir uns zunehmend weg vom traditionellen Alleinverdienermodell zu einem Zweiverdienerhaushalt hinbewegen", heißt es in der Analyse. Knapp ein Drittel der Beschäftigten arbeitete demnach 2023 in Teilzeit.
Abschied vom Acht-Stunden-Tag? Süddeutsche Zeitung, (B) (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 6 |
Die Regierung will eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit einführen. So wären längere Arbeitstage möglich. Forscher warnen.
München – Das Vorhaben steht im Koalitionsvertrag auf Seite 18: Die Arbeitswelt sei im Wandel, Beschäftigte und Unternehmen wünschten sich mehr Flexibilität. "Deshalb wollen wir", schreiben Union und SPD, "im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen." Übersetzt heißt das: Nicht alle, aber manche Arbeitnehmer werden sich künftig vom Acht-Stunden-Tag verabschieden müssen.
Die Details der neuen Regelung in Deutschland sind noch nicht klar; im Koalitionsvertrag heißt es, über die "konkrete Ausgestaltung" wollten Union und SPD noch mit Arbeitgebern und Gewerkschaften sprechen. Im Grundsatz aber soll es so laufen, wie die europäische Arbeitszeitrichtlinie vorgibt. Demnach dürfen die Beschäftigten binnen sieben Tagen maximal 48 Stunden arbeiten, pro Tag sind auch mehr als der in Deutschland üblichen acht oder höchstens zehn Stunden erlaubt. Gesetzliche Pause- und Ruhezeiten – zwischen Arbeitsende und dem nächsten Arbeitsbeginn müssen in der Regel mindestens elf Stunden frei sein – müssen jedoch eingehalten werden. Bestehende Regeln etwa aus Tarifverträgen sollen nicht angetastet werden.
Wissenschaftler des Hugo-Sinzheimer-Instituts, das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört, haben nun ausgerechnet, was der Plan von Union und SPD für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeuten könnte – und sie warnen vor den Konsequenzen. "Die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit würde faktisch nach Abzug der Mindestruhezeit von elf Stunden und der entsprechenden Ruhepause von 45 Minuten eine tägliche Höchstarbeitszeit von zwölf Stunden und 15 Minuten ermöglichen", schreiben die Autoren Amélie Sutter-Kipping und Laurens Brandt.
Dies sei ein "Irrweg", argumentieren sie: Die Einführung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit laufe dem Plan der Bundesregierung zuwider, mehr Menschen in Deutschland dazu zu bringen, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Eine Steigerung des Arbeitszeitvolumens in Deutschland ist aus Sicht vieler Ökonomen notwendig, um die Auswirkungen des demografischen Wandels zu lindern; dieser führt schon jetzt zu einem Mangel an Arbeitskräften, der sich mit dem Renteneintritt vieler Babyboomer in den nächsten Jahren noch weiter verschärfen wird.
Mögliche Arbeitszeiten von bis zu zwölf Stunden und 15 Minuten führten jedoch dazu, dass sich künftig mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer krankmeldeten, sagen Sutter-Kipping und Brand voraus. Arbeitsmedizinisch sei "längst erwiesen, dass Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden die Gesundheit gefährden". Es komme häufiger zu stressbedingten Erkrankungen wie Erschöpfungszuständen und dem Burn-out-Syndrom, außerdem steige das Risiko für Schlaganfälle, Krebs und Diabetes. Das Unfallrisiko steige ab der achten Arbeitsstunde exponentiell an, Arbeitszeiten von über zehn Stunden täglich würden als hochriskant eingestuft. Nach zwölf Stunden sei die Unfallrate bei der Arbeit oder der Fahrt nach Hause dop e Zeitung GmbH, München pelt so hoch wie nach einem Acht-Stunden-Tag. Darüber hinaus erschwere die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Vorgesetzte könnten verlangen, dass Beschäftigte an einigen Wochentagen länger arbeiteten; das mache den Alltag weniger planbar als bisher. "Es droht der Effekt einer weiteren Verringerung der Erwerbsarbeit gerade bei Frauen."
Die Arbeitgeber wiederum sind der Ansicht, das genaue Gegenteil sei der Fall.
Seit Jahren haben sie für die wöchentliche Höchstarbeitszeit geworben, auch mit dem Argument, dass sie den Beschäftigten mehr Flexibilität ermögliche. In einer Broschüre wirbt die Arbeitgebervereinigung BDA mit Beispielen aus dem Berufsalltag: Mitarbeiter großer Unternehmen mit Standorten in verschiedenen Zeitzonen könnten auch noch abends an Telefonkonferenzen teilnehmen; Chemikerinnen in Pharmaunternehmen könnten ihre Versuchsreihen beenden, auch wenn sie damit die bisher gültige tägliche Höchstarbeitszeit überschreiten würden. Dafür könnten sie an anderen Tagen weniger oder gar nicht arbeiten – und stattdessen, zum Beispiel, Kinder betreuen.
"Der Wechsel zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit bringt mehr Flexibilität für Arbeitgeber und Arbeitnehmer", sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter der SZ. Das wünschten sich viele Beschäftigte, "besonders aus familiären Gründen". Gefährdungen würden durch die fortbestehenden Pflichten, Ruhezeiten zu gewähren, ausgeschlossen. "Die Kritik ist an den Haaren herbeigezogen."
Wer hat nun recht? Es kommt wohl auf die Art der Arbeit an. Arbeitnehmer, die schon heute Spielraum bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit haben, dürften von der geplanten Regelung profitieren: Sie können, um Projekte fertigzustellen, auch mal rechtskonform Zwölf-Stunden-Tage einlegen und dafür das Wochenende um einen Tag verlängern. Wer aber am Fließband steht und kurzfristig bitte drei Stunden länger arbeiten soll, für den könnte die wöchentliche Höchstarbeitszeit tatsächlich deutlich mehr Stress bedeuten.
Die Bundesregierung dürfte versuchen, solche Konflikte in ihrem Gesetzesentwurf aufzufangen. Das Bundesarbeitsministerium teilte auf Anfrage mit, es werde das Vorhaben zügig aufgreifen. "Wie die konkrete Ausgestaltung im Einzelnen aussehen wird, bleibt abzuwarten."
Benedikt Peters
Nach zwölf Stunden ist die Unfallrate doppelt so hoch wie nach acht
Die Kritik sei "an den Haaren herbeigezogen"
, sagen die Arbeitgeber
Alle weiteren Quellen: Süddeutsche Zeitung Online
ESSAY Die Zukunft gehört nicht Elon Musk Süddeutsche Zeitung, (B) (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 22 |
Warum bauen nur rechtsdrehende Oligarchen Super-Software und Raketen? Und warum schaffen es progressive Städte nicht, genügend Wohnungen und Energienetze zur Verfügung zu stellen? Wie ein Fortschritt aussehen kann, der allen nutzt.
Eine Frage vereint die Gegner der rechten Populisten, egal ob diese Gegner in der Mitte oder links stehen: Mit welcher Wirtschaftspolitik lassen sich die Menschen zurückgewinnen? Donald Trumps Versprechen eines "goldenen Zeitalters", Elon Musks Fantasien von Kolonien auf dem Mars – solche Visionen kommen offensichtlich besser beivielen Wählern an als die liberal-sozialdemokratische Politik der vergangenen Jahrzehnte. Sie wird eher als blutleeres Management wahrgenommen denn als großer Wurf – oder gleich als Inkompetenz.
Dass eine oligarchisch organisierte Kahlschlag-Politik à la Trump und seinen staatsfeindlichen Verbündeten nicht im Sinne der meisten Wähler ist, wird zunehmend offensichtlich. Aber was haben die Gegner der Populisten zu bieten?
Seit Langem setzt das progressive Lager auf nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, auf höhere Löhne und Transferleistungen an die Schwächeren. Die Logik: Wenn die Menschen mehr Geld haben, kurbeln sie damit die Wirtschaft an. Das Problem: Offensichtlich stellt dieses System nicht genug essenzielle Güter und Infrastruktur zur Verfügung. Es fehlt an Wohnungen wie an funktionierenden Netzen für Züge und Energie. Gerade progressiv regierte Städte von New York bis München bekommen ihre Wohnungsprobleme nicht in den Griff. Billige grüne Energie für alle ist noch ein Traum.
In den USA wird diese Debatte derzeit von einem Buch bestimmt, das auf Platz eins der New York Times-Bestsellerliste stand und ein Weckruf für die gedemütigten Post-Biden-Demokraten sein soll: "Abundance", geschrieben von den Journalisten Ezra Klein und Derek Thompson. Das Wort der beiden hat Gewicht in progressiven Kreisen. "Abundance", das heißt so viel wie "in Hülle und Fülle". Die Knappheit, die das Leben in den reichen Gesellschaften prägt, müsse beendet werden, fordern Klein und Thompson. Es ist ein Versuch, eine asketische Form progressiver Politik abzustreifen, die den Menschen zu viel abverlangte. Stattdessen fordern sie eine progressive Politik, die das Angebot an Gütern stärkt statt nur die Nachfrage.
Der Staat agiere nicht zügig im Sinne der Bürger – sei es beim sozialen Wohnungsbau, der Klimawende oder dem Ausbau des Schienenverkehrs. Als weitere Beispiele gelten Klein und Thompson die Lieferengpässe bei medizinischer Ausrüstung und Computerchips während der Covid-Pandemie.
Die beiden Journalisten schreiben auch über ein Gesetz der Biden-Regierung, mit dem schnell eine US-Chipindustrie aufgebaut werden sollte. Sie kritisieren die Vorgabe, dass Unternehmen, die sich um Subventionen bewerben, detailliert nachweisen müssen, wie sie Diversität unter ihren Arbeitern sicherstellen können.
Am Ende geht es um die Frage, was Fortschritt ist. Zwei Vorstellungen stehen scheinbar in Konflikt miteinander: Der ökonomisch-technologische Fortschritt wird als konservativ oder wirtschaftsliberal wahrgenommen. Die progressive Seite setzt auf sozialen Fortschritt – mehr Rechte für Frauen und Minderheiten, Umweltschutz, kurz: Empathie. Was aber, wenn dieser Fortschritt den anderen lähmt?
In dieser Analyse sind sich Klein und Thompson einig mit einem weiteren aktuellen Buch, dem schön betitelten "Why nothing works" (Warum nichts funktioniert) des Politik-Historikers Marc J. Dunkelman von der Brown-Universität. Er erinnert daran, dass progressive Regierungen lange große Vorhaben in die Tat umsetzen – von der Mondlandung bis zur Gleichstellungspoli-tik, die schwarzen Amerikanern seit den Sechzigerjahren geholfen hat. Seit den Siebzigerjahren überwiege aber das Misstrauen der Progressiven gegen jede Form von Macht – und damit auch gegen zentrale Autoritäten, die die Knappheiten beenden könnten. Diese Form des linken Individualismus verdamme Projekte zum Scheitern.
Der Fortschritt solle möglichst demokratisch sein und Macht "von unten" begrenzen, schreibt Dunkelman. Bürger sollen an möglichst vielen Entscheidungen möglichst stark beteiligt werden – betroffene Anwohner, aber zum Beispiel auch anwohnende Biber beim Bau von Bahntrassen.
Als plakatives Beispiel dient Dunkelman der Versuch des demokratischen Bürgermeisters von New York, in den Achtzigerjahren im Central Park eine Eisfläche zu renovieren. Nach sechs Jahren war das Projekt immer noch nicht fertig, dafür aber mehr als doppelt so teuer wie geplant. Die Stadtverwaltung nahm die Hilfe eines Bauunternehmers an, der das Projekt schnell fertigstellte. Er hieß Donald Trump.
Die These von der Inkompetenz der demokratischen Verwaltung hat ihre Schwächen. Bei Kleins und Thompsons Konzept der "Abundance" bleibt stellenweise unklar, was ihre Forderungen von der Deregulierung und Entlastung von Unternehmern – dem berüchtigten Neoliberalismus – unterscheidet. Also von dem, was seit Jahrzehnten von ganz oben praktiziert wurde, gerade von Sozialdemokraten wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder.
Die Forderungen erinnern auch an jene der Tech-Oligarchen des Silicon Valley. Marc Andreessen, einflussreicher Risikokapitalist, schrieb in seinem Manifest "It’s time to build" von 2020: "Die Dinge, die wir in großen Mengen bauen, wie Computer und Fernsehgeräte, sinken schnell im Preis. Die Dinge, die wir nicht bauen, wie Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser, schießen im Preis in die Höhe." Amerika müsse Erfindern und Gründern freie Hand lassen. Alex Karp, Chef des Polizeisoftware-Herstellers Palantir, fordert in seinem Buch "The Technological Republic", Tech-Firmen und den Staat ganz nah aneinander zu bringen. Politik müsse von Forschern und Ingenieuren gemacht werden statt wie heute von "Legionen von Anwälten".
Den technischen Fortschritt, der die Mondraketen und den ICE möglich gemacht hat, hat die politische Rechte schon gekapert. Ihre Vordenker wie Elon Musk tun so, als könnten nur sie die Zukunft bauen. Sie sehen die Gesellschaft als Computer, der nur mit der richtigen Technologie aufgerüstet werden muss. Gesellschaftlicher Fortschritt – Emanzipation, Gleichheit, Anerkennung historischer Verbrechen, Umweltschutz, Klimaschutz – ist demnach nur ein Softwarefehler und erzeugt unnötige Reibung im System.
Nicht ohne Neid schreibt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze: Musk habe "eine unheimliche Fähigkeit bewiesen, etwas zu tun, wovon die Linke träumt, aber noch lange nicht in der Lage ist, es zu verwirklichen. Er hat Objekte und ein damit verbundenes Unternehmen in eine Mission verwandelt. Musk hat einen populistischen Kult um seine beiden Projekte, das Tesla-Auto und sein Raketenprogramm, geschaffen".
Klein und Thompson machen in ihrem Buch allerdings die nachfrageorientierte Politik schlechter, als sie ist. Denn die großen Staatsausgaben der reichen Länder sind einer der Gründe, dass dieser Wohlstand auch erhalten bliebt. Sie stützen die Nachfrage und damit auch jene Unternehmer, die über zu viel Bürokratie jammern. Zugleich lassen sich die Folgen der Austerität der vergangenen Jahrzehnte besichtigen, gerade bei der Infrastruktur, die die Bevölkerung manchmal an den Rand des Wahnsinns treibt. Und wer schon mal auf ei- ner Demonstration gegen Kohleabbau war, weiß auch, dass dort grüne Ingenieure mitlaufen, die sehr wohl an der Zukunft arbeiten, besonders in der Wind- und Solarkraft.
Dennoch ist eine der Diagnosen korrekt: Die bürokratische Reibung im System sollte verringert werden, wenn man die Erzählung widerlegen will, nur die Politiker der Rechten seien "Macher".
Was heißt das alles für Deutschland? Auch hier murren viele über Überbürokratisierung und mangelnde Visionen. Wer über die Deutsche Bahn schimpft, schiebt oft hinterher, dass der Shinkansen-Zug in Japan ja auf die Sekunde genau pünktlich ankomme. Braucht das gesellschaftspolitisch progressive Deutschland mehr angebotsorientierte Wirtschaftspolitik?
Das kann man mit Sebastian Dullien besprechen, dem wissenschaftlichem Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Obwohl er eher jene Nachfrageorientierung vertritt, die als Keynesianismus bekannt ist, gibt er zu: "Es ist richtig, dass man auf der linken Seite auf Effizienz achten muss. Gerade bei den Grünen gibt es eine Bewegung, die den Naturschutz auch lokal durchsetzen will und damit Großprojekte erschwert." Er schränkt aber in Bezug auf die "Abundance"-Debatte ein: "Der Vorwurf an die Linke in den USA ist, dass sie zu viel auf Prozesse gesetzt hat statt auf Ergebnisse. Das lässt sich aber auf Deutschland nicht 1:1 übertragen. Die Genehmigungsverfahren wurden von der Ampel massiv verkürzt."
Von der Bundesnetzagentur heißt es, die Zahl der genehmigten Kilometer Stromleitungen habe sich von 2023 auf 2024 mehr als verdoppelt, auf 2700 Kilometer. Das liege unter anderem daran, dass nun schon oft erste Bauphasen formell eingeleitet werden, bevor alle Genehmigungen da sind.
Mit der neuen Bundesregierung verschieben sich die Prioritäten weiter. Diese Woche hat das Kabinett angestoßen, dem Ausbau von Glasfaser- und Mobilfunknetzen Vorrang vor Natur- und Denkmalschutz einzuräumen, Begründung: "überragendes öffentliches Interesse". Eine gewisse Beschleunigung steht also an.
Bleibt der Wohnungsmarkt. Die Ampel scheiterte an ihrem Vorhaben, 400 000 neue Wohnungen zu bauen – ein Grund sind Regeln und Normen, die den Bau verlangsamen. Hier liegt einer der wichtigsten Aufträge für die neue Regierung.
Auch die EU gilt vielen als bürokratische Verhindererin. Elizabeth Kuiper vom European Policy Centre, einem Thinktank in Brüssel, erklärt die Fortschrittsfrage als politisches Problem: "Wenn die EU nicht liefert, wählen die Leute extremere Parteien."
Sie sagt, Europa müsse sich von den "Abundance"-Ideen etwas abschauen. Die EU denke zu sehr vom Budget her statt vom Ergebnis: "Bei Sozialausgaben für Wohnen, Gesundheit und Bildung wird nur gemessen, wie viel Geld reingesteckt wird, nicht, was am Ende geliefert wird." In der Forschungsförderung seien die besten Ideen weniger gefragt als perfekt ausgefüllte Anträge. Allerdings sei die Botschaft auch bei der EU angekommen. Kuiper verweist auf den neuen KI-Aktionsplan. Er soll die Genehmigungen für Rechenzentren beschleunigen. Sie sind für moderne KI essenziell.
In ihrem Buch träumen Klein und Thomson vom Jahr 2050, in dem Steaks im Labor gezüchtet werden; im Erdorbit schweben vollautomatisierte Fabriken, die günstig Medikamente produzieren. Dort fragen die Menschen sich: Wie konnten die Menschen des Jahres 2025 nur Obdachlosigkeit, schlechte Infrastruktur und andere Mängel akzeptieren? Warum stellten sie nicht einfach die Dinge bereit, die die Welt besser machen? Gute Frage, eigentlich.
"Abundance"
ist ein Gegenentwurf zur progressiven Askese
Was kann sich Europa vom Konzept der Autoren abschauen?
Alle weiteren Quellen: Süddeutsche Zeitung Online
Inflation im Mai liegt bei voraussichtlich 2,1 Prozent Hamburger Abendblatt (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 2 |
Wiesbaden Die Inflation in Deutschland ist im Mai nach vorläufigen Daten konstant geblieben. Die Verbraucherpreise stiegen um 2,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Freitag in einer Schätzung mitteilte. Im Vergleich zum April kletterten die Preise leicht um 0,1 Prozent.
Dienstleistungen waren im Mai 3,4 Prozent teurer als im Vorjahresmonat. Bei den Nahrungsmitteln verharrte die Teuerungsrate bei 2,8 Prozent. Die Energiepreise sanken der ersten Schätzung zufolge erneut deutlich um 4,6 Prozent – damit gingen sie aber etwas weniger stark zurück als im April (5,4 Prozent).
Die Kerninflation – also die Preisentwicklung ohne Nahrungsmittel und Energie – lag laut Statistikamt im Mai bei voraussichtlich 2,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Im April hatten die Statistiker eine Kerninflation von 2,9 verzeichnet.
"Die Inflation verharrte im Mai bei 2,1 Prozent, obwohl die Energiepreise etwas weniger stark dämpften", erklärte die Geldpolitik-Expertin des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, Silke Tobler. "Entscheidend war, dass sich die Kernrate ohne Energie und Nahrungsmittel wie erwartet etwas abgeschwächt hat." afp
Alle weiteren Quellen: Berliner Morgenpost • Berliner Zeitung Online • HAZ.de Hannoversche Allgemeine Online • KN Kieler Nachrichten Online • Stern Online
Ziel verfehlt: Teuerung bleibt bei 2,1 Prozent Leipziger Volkszeitung, Leipzig (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 7 |
Die Inflation in Deutschland erweist sich hartnäckiger als gedacht - Notenbanker bringt das in eine knifflige Lage
Es hat doch nicht gereicht: Die Inflationsrate in Deutschland hat im Mai den Zielwert von 2,0 Prozent knapp verpasst. Nach vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamts lag die Teuerung bei 2,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat - den gleichen Wert hatte es schon im April gegeben. Gegenüber dem Vormonat stiegen die Verbraucherpreise laut bisher vorliegenden Daten um 0,1 Prozent.
Für die Rate ohne Nahrungsmittel und Energie - oft auch als Kerninflation bezeichnet - gab die Wiesbadener Behörde ein voraussichtliches Plus von 2,8 Prozent an. Im April wurden 2,9 Prozent gemessen.
Die Kennziffer gibt Auskunft über die längerfristige Entwicklung der Preise. Für Silke Tober vom gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut IMK ist diese Abschwächung entscheidend: "Im weiteren Jahresverlauf dürfte die Teuerungsrate um das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von 2 Prozent schwanken." Zugleich blieben die wirtschaftlichen Aussichten in Deutschland und im Euroraum eingetrübt. Daran änderten auch kleine Lichtblicke wie der leichte Anstieg der Wirtschaftsleistung im ersten Quartal nur wenig.
Die 2 Prozent sind so etwas wie die magische Zahl der Notenbanker, weil sie als Indikator für Preisstabilität stehen. Wird diese erreicht, hat das erhebliche Auswirkungen auf Zinsen und Geldpolitik. Die offizielle EZB-Definition lautet: "Mittelfristig streben wir eine Inflationsrate von 2 Prozent an. Wir verstehen dieses Ziel als ein symmetrisches Ziel. Das heißt, unserer Auffassung nach ist eine zu niedrige Inflationsrate genauso negativ wie eine zu hohe Inflationsrate." Laut dem Finanzdienst Dow Jones hatte eine große Zahl der Experten die 2,0 Prozent für Deutschland prognostiziert. Doch die Inflation erweist sich als hartnäckiger als erwartet.
Michael Heise, Chefökonom von HQ Trust, betont: "Dass der Preisanstieg vergleichsweise moderat ausgefallen ist, haben die Verbraucher nicht zuletzt weiterhin rückläufigen Energiepreisen zu verdanken." Hier ging es um 4,6 Prozent nach unten. Wenig Freude kommt dagegen für Verbraucher bei Dienstleistungen und Nahrungsmitteln auf, die weiterhin deutlich teurer sind als vor einem Jahr.
Was tun? "Die neue Regierung könnte einen sehr wichtigen Beitrag zur Verminderung der Inflation leisten, wenn sie den Anstieg der Lohnnebenkosten durch Sozialversicherungsbeiträge stoppt", rät Heise. Außerdem müssten die Energiepreise durch niedrigere Steuern und Abgaben auf den Stromverbrauch reduziert werden. Dann könne die Inflationsrate auch einmal deutlich unter 2 Prozent fallen, glaubt der Experte. "Das wäre ein Segen für die Verbraucher - und ein schöner Impuls für die Konjunktur."
In Spanien lagen die Verbraucherpreise im Mai erstmals seit sieben Monaten unter der Zwei-Prozent-Marke. In Italien meldeten die Statistiker am Freitag eine Rate von nur noch 1,9 Prozent.
Im gesamten Euroraum lag die Preissteigerung zuletzt bei 2,2 Prozent. Am kommenden Donnerstag entscheidet das oberste Gremium der Notenbank, der EZB-Rat, über die Leitzinsen. Bislang geht eine große Mehrheit der Beobachter von einer weiteren Absenkung aus. Allerdings ist die aktuelle Lage äußerst komplex. So machte das Ratsmitglied Fabio Panetta gerade deutlich, dass die Teuerung zwar "fast vollständig unter Kontrolle" sei. Zugleich betonte er aber, dass es nun "sorgfältig abgewogene Entscheidungen" brauche.
Hauptursache ist die unberechenbare Handelspolitik von US-Präsident Donald Trump. Diese hat zu einer Aufwertung des Euro geführt, was Exporte von Unternehmen aus der Währungsunion in andere Länder verteuert. Panetta sprach zudem von "wachsender Unsicherheit" und meinte damit die konjunkturelle Entwicklung in den USA. Unter Volkswirten kursieren Rezessionsängste, die auch auf den alten Kontinent überspringen könnten. Als möglichen positiven Effekt hat EZB-Chefvolkswirt Philip Lane indes gerade in einem Interview darauf hingewiesen, dass durch eine US-Schwäche die Preise für Öl und Gas weiter sinken könnten, was die Teuerung auch hierzulande weiter dämpfen würde.
Ähnliche Auswirkungen erwarten viele Volkswirte, falls es trotz der Verhandlungen zwischen den USA und China doch noch auf hohe US-Einfuhrzölle für chinesische Produkte hinausläuft. Wenn dann Waren aus der Volksrepublik in rauen Mengen nach Europa umgeleitet werden, kann dies nach Panettas Einschätzung hier "die Produktion und die Inflation drücken".
Die Ökonomen der EZB blicken derzeit zudem besonders genau auf die Lohnentwicklung. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Deutschland. Auf dem Arbeitsmarkt der größten Volkswirtschaft der Eurozone herrsche nach wie vor eine "beträchtliche Flaute", und insgesamt verlangsame sich das Lohnwachstum, so Grant Slade vom Analysedienst Morningstar. Deshalb gebe es jetzt Spielraum für weitere Zinssenkungen. Auch Tober empfiehlt: "Mit dem Ziel, die Binnennachfrage zu stärken, sollte die EZB die Geldpolitik weiter lockern." Konkret könnte es auf eine Absenkung des Einlagesatzes von 2,25 Prozent auf 2,00 Prozent hinauslaufen. Die Leitzinsen sind insbesondere für den gesamten Geldmarkt und für Kreditvergaben von zentraler Bedeutung.
Zitat-Text:
Die neue Regierung könnte einen Beitrag leisten, wenn sie den Anstieg der Lohnnebenkosten stoppt.
Michael Heise, Ökonom
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Wochenarbeitszeit: Studie nennt Risiken Freie Presse Chemnitz (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 7 |
Die Gewerkschaften trommeln seit Wochen gegen die von Schwarz-Rot geplante Abkehr von der bisher gültigen täglichen Höchstarbeitszeit.
Verena Schmitt-Roschmann
Die geplante Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit könnte nach Darstellung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu überlangen Arbeitstagen von bis zu 12 Stunden und 15 Minuten führen. Die Folgen wären Gesundheitsrisiken, mehr Krankheitstage und mehr Druck auf Familien, warnt eine Analyse des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Stiftung. Die Neuerung könnte sogar kontraproduktiv wirken.
Laut Koalitionsvertrag will die Bundesregierung die Möglichkeit "einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen". Dabei sollen die geltenden Ruhezeitregelungen beibehalten werden. Somit müssen zwischen zwei Schichten mindestens elf Stunden liegen. Zudem seien während der Arbeitszeit bis zu 45 Minuten Pause einzuplanen, rechnen die HSI-Experten vor. Daraus ergibt sich die Option eines Arbeitstags von mehr als zwölf Stunden.
Die Gewerkschaften laufen seit Wochen Sturm gegen den Abschied vom seit 1918 üblichen Acht-Stunden-Tag – während Arbeitgeberverbände dies für einen flexibleren Arbeitsmarkt seit Langem fordern. DGB-Chefin Yasmin Fahimi erneuerte in der "Rheinischen Post" ihre Kritik: "Es geht wohl eher darum, rechtlich fragwürdige Geschäftsmodelle zu legalisieren, wie regelmäßige Zwölf-Stunden-Schichten bei Subunternehmern im Paketdienst oder die fehlenden Ruhezeiten im Hotel- und Gastgewerbe."
Die HSI-Analyse trägt nun die Argumente gegen die Koalitionspläne zusammen. "Arbeitsmedizinisch ist längst erwiesen, dass Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden die Gesundheit gefährden", heißt es in dem Papier. Langfristig komme es häufiger zu stressbedingten und psychischen Leiden, die wiederum Grund für Fehlzeiten und vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben seien. Auch das Unfallrisiko steige ab der achten Arbeitsstunde – sowohl am Arbeitsplatz als auch bei der anschließenden Fahrt nach Hause. Im Koalitionsvertrag ist allerdings festgehalten, dass "die hohen Standards im Arbeitsschutz" beibehalten würden. Und: "Kein Beschäftigter darf gegen seinen Willen zu höherer Arbeitszeit gezwungen werden."
Die HSI-Fachleute führen zudem an, das geltende Recht sei bereits flexibel und erlaube – unter bestimmten Bedingungen – Arbeitstage von bis zu zehn Stunden. Im Übrigen habe das Arbeitszeitvolumen von abhängig Beschäftigten in Deutschland 2023 mit 54,59 Milliarden Stunden deutlich über dem Niveau von 52,2 Milliarden Stunden im Jahr 1991 gelegen. Das HSI räumt aber unter Berufung auf Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ein, dass die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten 1991 noch bei rund 1478 Stunden lag und im Jahr 2023 bei 1295. Der Grund: Knapp ein Drittel der Beschäftigten arbeitete 2023 in Teilzeit. Daran würde eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes nichts ändern, hieß es. (dpa)
Alle weiteren Quellen: Donaukurier Ingolstadt • Heilbronner Stimme Stadtausgabe • Ludwigsburger Kreiszeitung Stadtausgabe • Münstersche Zeitung Münster • Reutlinger General-Anzeiger • Rhein-Neckar-Zeitung - Heidelberger Nachrichten • Schwäbische Zeitung Ravensburg • Traunsteiner Tagblatt • Trierischer Volksfreund - Zeitung für Trier und das Trierer Land • Westfälische Nachrichten Münster-Stadt • Zollern-Alb Kurier
Studie: Neue "Wochenarbeitszeit" bringt Zwölf-Stunden-Tage Saarbrücker Zeitung, Saarbrücken Regionalverband (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 7 |
Schwarz-Rot plant die Abkehr von einer täglichen Höchstarbeitszeit. Eine Studie bündelt Gegenargumente. Arbeitgeber sind nicht überzeugt.
Berlin (dpa) Die geplante Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit würde nach Darstellung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu überlangen Arbeitstagen von bis zu zwölf Stunden und 15 Minuten führen. Die Folgen wären Gesundheitsrisiken, mehr Krankheitstage und mehr Druck auf Familien, warnt eine Analyse des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Stiftung. Die Neuerung könnte "wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken", heißt es darin. Arbeitgeberverbände weisen solche Bedenken zurück.
Laut Koalitionsvertrag will die Bundesregierung die Möglichkeit "einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen". Doch würden "die geltenden Ruhezeitregelungen beibehalten". Somit müssen zwischen zwei Schichten mindestens elf Stunden liegen. Zudem seien während der Arbeitszeit 45 Minuten Pause einzuplanen, rechnen die HSI-Experten vor. Dennoch ergibt sich die Option eines Arbeitstags von mehr als zwölf Stunden.
Die Gewerkschaften laufen seit Wochen Sturm gegen den Abschied vom seit 1918 üblichen Acht-Stunden-Tag. DGB-Chefin Yasmin Fahimi erneuerte jüngst ihre Kritik: "Es geht wohl eher darum, rechtlich fragwürdige Geschäftsmodelle zu legalisieren, wie regelmäßige Zwölf-Stunden-Schichten bei Subunternehmern im Paketdienst oder die fehlenden Ruhezeiten im Hotel- und Gastgewerbe."
Die HSI-Analyse trägt nun die Argumente gegen die Koalitionspläne zusammen: "Arbeitsmedizinisch ist längst erwiesen, dass Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden die Gesundheit gefährden", heißt es in dem Papier. Langfristig komme es häufiger zu stressbedingten und psychischen Leiden, die wiederum Grund für Fehlzeiten und vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben seien. Auch das Unfallrisiko steige ab der achten Arbeitsstunde – sowohl am Arbeitsplatz als auch bei der anschließenden Fahrt nach Hause.
Im Koalitionsvertrag ist allerdings festgehalten, dass "die hohen Standards im Arbeitsschutz" beibehalten würden. Und: "Kein Beschäftigter darf gegen seinen Willen zu höherer Arbeitszeit gezwungen werden."
Im Koalitionsvertrag heißt es auch, die Neuerung wäre "im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf". Die HSI-Analyse widerspricht: "Die Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Arbeitszeiten stellen wichtige Schlüsselfaktoren für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dar. Es droht der Effekt einer weiteren Verringerung der Erwerbsarbeit gerade bei Frauen."
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hielt dagegen, viele Beschäftigte wünschten sich mehr Flexibilität aus familiären Gründen. "Gefährdungen werden durch die fortbestehenden Pflichten, Ruhezeiten zu gewähren, ausgeschlossen", erklärte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Ein neuer Rechtsrahmen ändere auch nichts an individuell oder tarifvertraglich vereinbarten Arbeitszeiten. "Die Kritik ist an den Haaren herbeigezogen", sagte er.
Die HSI-Fachleute führen an, das geltende Recht sei bereits flexibel und erlaube – unter bestimmten Bedingungen – Arbeitstage von bis zu zehn Stunden. Im Übrigen habe das Arbeitszeitvolumen von abhängig Beschäftigten in Deutschland 2023 mit 54,59 Milliarden Stunden deutlich über dem Niveau von 52,2 Milliarden Stunden im Jahr 1991 gelegen.
Das HSI räumt indes unter Berufung auf Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung ein: "Die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten lag laut IAB 1991 noch bei rund 1478 Stunden und im Jahr 2023 bei 1295 Stunden." Der Grund: Knapp ein Drittel der Beschäftigten arbeitete 2023 in Teilzeit. Daraus ergebe sich eine im europäischen Vergleich geringe durchschnittliche Arbeitszeit aller Beschäftigten von 34,7 Stunden pro Woche. "An diesen Zusammenhängen würde eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes nichts verbessern, im Gegenteil", meinen HSI-Autoren.
In der Bevölkerung sehen viele die Koalitionspläne weniger skeptisch. In einer Yougov-Umfrage befürworteten kürzlich 38 Prozent der Befragten den Vorstoß für eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit. Jeder Fünfte lehnt den Plan ab, 37 Prozent sehen das neutral. Anhänger einer Wochenarbeitszeit hoffen zum Beispiel darauf, statt fünfmal acht viermal zehn Stunden zu arbeiten und ein verlängertes Wochenende zu haben.
Studie kritisiert Bundesregierung Westdeutsche Allgemeine WAZ, Essen (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 10 |
Düsseldorf Arbeitsrechtsexperten sehen die von der neuen Bundesregierung geplante Einführung einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit kritisch. Die damit mögliche Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf über zwölf Stunden "dürfte wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken", heißt es in einer am Freitag in Düsseldorf veröffentlichten Studie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Überlange Arbeitszeiten gefährdeten die Gesundheit der Beschäftigten, erhöhten das Unfallrisiko und verschlechterten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, warnten die HSI-Fachleute Amélie Sutterer-Kipping und Laurens Brandt. epd
Ist Österreich ein Vorbild bei der Rente? Freie Presse Chemnitz (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 4 |
In der Alpenrepublik bekommt der Standardrentner mehr heraus als der Deutsche. Doch das hat auch seinen Preis.
Dirk Baas
Das deutsche und das österreichische Rentenrecht unterscheiden sich nicht nur beim Leistungsniveau, sondern in zahlreichen Regelungen der Finanzierung. Dennoch sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin): "Österreich kann als Vorbild für Deutschland bei der Rentenreform gelten." Die Alpenrepublik habe vorgemacht, wie die Aufnahme von Beamten und Selbstständigen die gesetzliche Rente stärken, das Rentenniveau deutlich steigen und die Altersarmut sinken kann, sagt Fratzscher. "Wichtig ist aber, dass ein deutlich höheres Rentenniveau in Österreich nur wegen höherer Beitragssätze und stärkerer steuerlicher Zuschüsse möglich ist."
Florian Blank, Referatsleiter Sozialpolitik der Hans-Böckler-Stiftung, sagt: "Die Integration Selbstständiger in die Rentenkassen ist zwar kein Allheilmittel gegen den demografischen Wandel, und trotzdem kann die Ausweitung der Rentenversicherung sinnvoll sein." Die Deutsche Rentenversicherung Bund nennt es interessant für die deutsche Reformdiskussion, "wie es die Österreicher geschafft haben, ein einheitliches Rentenrecht für alle Erwerbstätigen auf den Weg zu bringen."
Auch die neue Bundesregierung will mehr Rentenbeitragszahler gewinnen. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, dass neue Selbstständige, "die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem zugeordnet sind", in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden sollen. Zu Beamten und anderen Berufsgruppen gibt es keine Festlegung.
Laut einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages aus dem Jahr 2023 erhalten langjährig Versicherte nach 45 Beitragsjahren (Standardrente) hierzulande durchschnittlich 1692 Euro und im Nachbarland 2515 Euro. Das liegt zum einen an der breiteren Basis an Beitragszahlern. In Österreich zahlen rund 94 Prozent aller Erwerbstätigen in die Rentenversicherung ein, in Deutschland sind es nur rund 79 Prozent (ohne Minijobber). Zudem wurden in Österreich Selbstständige (seit 1977) und Beamte (ab 2005) in das System der gesetzlichen Rentenversicherung integriert. Darüber hinaus liegt der Beitragssatz in Österreich seit 1988 unverändert bei 22,8 Prozent (Deutschland: 18,6 Prozent). Beim Nachbarn zahlen Arbeitgeber mit 12,55 Prozent höhere Beiträge als die Arbeitnehmer (10,25 Prozent). Allein dieser Unterschied macht rund ein Drittel der Rentendifferenz (156 Euro) aus, so die Dezernenten der Deutschen Rentenversicherung, Ulrich Brandt und Christoph Freudenberg.
Rechnet man noch die Auswirkung des deutlich höheren Staatszuschusses, den die österreichische Regierung Jahr für Jahr in die Rentenkasse zahlt, hinzu, dann ist schon die Hälfte der Rentendifferenz zu Deutschland erklärt. Nach Angaben des Rentenexperten des Ifo-Instituts Dresden, Joachim Ragnitz, zahlt Österreich 2088 Euro pro Kopf, Deutschland nur 1538 Euro aus dem Staatshaushalt in die Rentenkasse ein. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln warnt: Die sofortige vollständige Überführung aller 1,9 Millionen Beamten in die Rentenkassen wäre sehr teuer.
Bei einer paritätischen, also hälftigen Finanzierung der Kosten durch öffentliche Arbeitgeber und künftig rentenversicherungspflichtige Beamte wären es zehn Milliarden Euro, so das IW. Gegen die vollständige Kopie des Rentensystems Österreichs spricht vor allem der deutlich höhere Rentenbeitrag. "Ich weiß nicht, ob man das in Deutschland so haben will. Das belastet die erwerbsfähige Generation noch stärker als ohnehin schon", sagt Ifo-Experte Ragnitz. Zudem sind die Abschläge beim vorzeitigen Wechsel in den Ruhestand in Österreich mit 4,2 Prozent höher als in Deutschland (3,6 Prozent). Und die Renten werden im Nachbarland voll versteuert, und der Eingangssteuersatz ist deutlich höher als in Deutschland.
Vorschläge, Beamte in die Rentenkasse aufzunehmen, sind für Ragnitz entweder gar nicht sinnvoll oder führten zu einer Verschiebung der Kosten auf einzelne Gruppen, ohne das grundsätzliche Problem zu lösen. "Sie führen in vielen Fällen auch nur dazu, dass das Problem fehlender Nachhaltigkeit dann halt 30 Jahre später eintritt, aber nicht gelöst ist." (epd)
Alle weiteren Quellen: Frankfurter Neue Presse Stadtausgabe • Hessische Allgemeine Kassel Mitte
Schwäbische Zeitung, Ravensburg/Weingarten (Tageszeitung) vom 31.05.2025 |
Inflationsrate verharrt auch im Mai voraussichtlich bei 2,1 Prozent. Experten rechnen auch in den nächsten Monaten mit ähnlich hoher Teuerungsrate.
WiesbadenDie Teuerung in Deutschland ist im Mai nach vorläufigen Daten konstant geblieben. Die Verbraucherpreise stiegen um 2,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Freitag in einer ersten Schätzung mitteilte. Im Vergleich zum April kletterten die Preise leicht um 0,1 Prozent. Experten gehen davon aus, dass die Inflationsrate auch in den nächsten Monaten um die Zwei-Prozent-Marke schwanken dürfte.
Dienstleistungen waren im Mai 3,4 Prozent teurer als im Vorjahresmonat. Auch Lebensmittel werden immer teurer, hier verharrte die Teuerungsrate bei 2,8 Prozent. Die Energiepreise sanken der ersten Schätzung zufolge indes erneut deutlich um 4,6 Prozent - damit gingen sie allerdings etwas weniger stark zurück als im April (minus 5,4 Prozent).
Die Kerninflation - also die Preisentwicklung ohne Nahrungsmittel und Energie - lag laut Statistikamt im Mai bei voraussichtlich 2,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Im April hatten die Statistiker eine Kerninflation von 2,9 verzeichnet.
"Die Inflation verharrte im Mai bei 2,1 Prozent, obwohl die Energiepreise etwas weniger stark dämpften", erklärte die Geldpolitik-Expertin des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, Silke Tobler. "Entscheidend war, dass sich die Kernrate ohne Energie und Nahrungsmittel wie erwartet etwas abgeschwächt hat."
"Zugleich bleiben die wirtschaftlichen Aussichten in Deutschland und im Euroraum eingetrübt und die Risiken für die Konjunktur sind infolge der drastischen und erratischen Zollpolitik des US-Präsidenten hoch", erklärte Tobler. Die Teuerungsrate dürfte im Verlauf des Jahres um das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) in Höhe von zwei Prozent schwanken, fuhr sie fort.
Davon geht auch ING-Bank-Analyst Carsten Brzeski aus. Er begründet dies unter anderem mit zwei gegensätzlichen Trends, die die kommende Zeit demnach voraussichtlich prägen: Auf der einen Seite dürfte die Abkühlung auf dem Arbeitsmarkt Brzeski zufolge den Lohndruck und in der Folge den Inflationsdruck nehmen. Auf der anderen Seite dürften fiskalische Anreize der Bundesregierung demnach den Inflationsdruck gegen Ende des Jahres und darüber hinaus verstärken. (AFP)
Obst und Gemüse werden teurer: Lebensmittel tragen überdurchschnittlich zur Inflation bei.
Rente Altersfragen: Mehr arbeiten oder doch investieren? nd Die Woche (Wochenzeitung) vom 02.06.2025 |
Im internationalen Vergleich nimmt der Anteil der Bevölkerung Deutschlands im Erwerbsalter besonders stark ab
Der Trend in der Rentenpolitik entwickelt sich Richtung Mehrarbeit. Gewerkschaften und linke Ökonom*innen argumentieren indes für einen sozialen Ausgleich innerhalb der Gesellschaft.
Über 100 Milliarden Euro werden jedes Jahr an Steuergeldern in die Deutsche Rentenversicherung (DRV) in Berlin gebuttert. Dafür gibt es gute Gründe. Der staatliche Zuschuss deckt sogenannte versicherungsfremde Leistungen ab. Dies sind Leistungen, welche der Gesetzgeber von der Rentenversicherung auszahlen lässt, obwohl dafür niemand Beiträge gezahlt hat.
Sowohl bei der Gründung der Rentenversicherung 1889 als auch bei der tiefgreifenden Reform 1957 in der BRD war bereits ein großer staatlicher Zuschuss vorgesehen. Der Anteil der staatlichen Beiträge an den gesamten Einnahmen der Rentenversicherung war damals sogar höher als heute, hat das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in Düsseldorf errechnet.
Doch obwohl die häufig von Journalisten, der "Wirtschaftsweisen" Veronika Grimm und Finanzmarktlobbyisten vorgetragene Kritik, ohne Zuschüsse des Bundes sei die Rente nicht finanzierbar und diese Zahlungen würden zugleich den Bundeshaushalt überfordern, zu kurz greift, lohnt ein Blick auf die demografische Entwicklung. Aufgrund der lange Zeit gestiegenen Lebenserwartung wuchs der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung und gleichzeitig stieg die Zahl der Rentnerinnen und Rentner. Ein Ende dieser Trends ist nicht in Sicht: Laut Statistischem Bundesamt wird die Zahl Älterer (ab 65 Jahren) in den nächsten zwanzig Jahren um fünf bis sechs Millionen auf mindestens 22,7 Millionen zunehmen.
Gleichzeitig sinkt im Trend die Anzahl der Erwerbstätigen. Allerdings hat deren Zahl im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht. "In vielerlei Hinsicht wird in Deutschland gerade so viel gearbeitet wie noch nie seit der Wiedervereinigung", schreibt die KfW Ende Mai in einer Studie. Die Bank gehört mehrheitlich dem Bund, ein kleinerer Anteil entfällt auf die Bundesländer, was der Studie besonderes politisches Gewicht verleiht.
Die Erwerbstätigenzahl liegt nun um 19 Prozent über dem Wert von 1991, obschon im selben Zeitraum die Bevölkerung im Erwerbsalter um fünf Prozent geschrumpft ist. Entsprechend hat die Erwerbstätigenquote in den letzten Jahrzehnten erheblich zugelegt: 77,5 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren waren 2024 erwerbstätig. Das sind zehn Prozentpunkte mehr als 1991.
Zwar sind die durchschnittlichen Arbeitsstunden aufgrund vermehrter Teilzeit – quasi als Kehrseite dieser Entwicklung – gesunken. Die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden ist aber dennoch immer weiter nach oben geklettert: Nach einem Einbruch infolge der Covid-Krise haben die geleisteten Arbeitsstunden aller Arbeitnehmer 2024 einen neuen Rekordwert erreicht. Und auch unter Einbezug der Selbstständigen liegen die geleisteten Arbeitsstunden nicht weit unter ihrem Spitzenwert von 2019.
Dennoch mehren sich Appelle für "noch mehr Arbeit". So macht sich die schwarz-rote Bundesregierung im Renten-Kapitel ihres Koalitionsvertrages für "eine hohe Beschäftigungsquote" stark. Tatsächlich dürfte infolge des Ausscheidens der sogenannten Babyboomer-Jahrgänge aus dem Berufsleben die Bevölkerung im Erwerbsalter in den kommenden Jahren besonders schnell schrumpfen. Als Folge wird das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft erheblich geschmälert, selbst wenn die Produktivität wieder wächst.
Auf letzteren Faktor setzen vor allem linke Wissenschaftler ihre Hoffnungen. So fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik um Professor Rudolf Hickel angesichts der "rentenpolitischen Schicksalsjahre" eine grundlegende Reform der Schuldenbremse, um dauerhaft mehr staatliche Investitionen zu ermöglichen, die das sogenannte Potenzialwachstum der Volkswirtschaft ankurbeln ("Goldene Regel"). Dies würde dann einen größeren Verteilungsspielraum für die Rentenversicherung und das gesamte Sozialsystem schaffen.
Was besonders für die deutsche Volkswirtschaft geraten scheint. Die Bevölkerung im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) wird bis 2035 um 9,1 Prozent abnehmen, prognostizieren UN und Weltbank. Ähnlich könnte die Entwicklung in Italien (-11,8 Prozent) und Japan (-8,9 Prozent) verlaufen. Derweil wird in Frankreich die Erwerbsbevölkerung nahezu gleich bleiben und in Großbritannien, Kanada sowie den USA größer werden. In der Bundesrepublik dürfte außerdem der Fachkräftemangel weiter zunehmen, was wiederum die Attraktivität des Standortes für Investitionen belastet.
Um gegenzusteuern, könnte an vielen Stellschrauben gedreht werden: Hierzu zählt die KfW eine weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote – Deutschland liegt hier international weiterhin nur im Mittelfeld – und der Lebensarbeitszeit, mehr "qualifizierte" Zuwanderung und längere Arbeitszeiten. Linke und gewerkschaftsnahe Ökonomen warnen jedoch vor neoliberalen, marktradikalen Antworten.
Es gehe stattdessen um Lebensstandardsicherung im Alter und den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft, schreiben die Alternativökonomen in ihrem neuen "Memorandum 2025". Dazu seien, neben Wirtschaftswachstum, vor allem eine grundlegende Steuerreform und eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes nötig.
Linke und gewerkschaftsnahe Ökonomen warnen jedoch vor neoliberalen, marktradikalen Antworten.
Alle weiteren Quellen: nd Online
Wirtschaft taz.die tageszeitung, Bundesausgabe (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 53 |
Nun also Bosch in Leinfelden. Das Werk, in dem seit 70 Jahren Elektrowerkzeuge gebaut werden, soll bis Ende 2026 weg, sagt der Vorstand. Er will in Ungarn produzieren. Auch die Werkzeug-Fertigung im sächsischen Sebnitz will Bosch schließen. 500 Frauen und Männer verlieren ihre Arbeit. Dabei nagt der Konzern nicht gerade am Hungertuch.
Am 9. April informierte die Geschäftsleitung den Betriebsrat von Bosch in Leinfelden. Die Botschaft: Wir schließen das Werk bis Ende 2026, jetzt müsst ihr mit uns über einen Sozialplan für die 230 betroffenen Beschäftigten verhandeln. Am nächsten Tag ging die Nachricht raus an die Belegschaft. Ähnlich lief es im Boschwerk im sächsischen Sebnitz ab, wo rund 280 Leute Bohrhämmer bauen, auch ihre Arbeitsplätze sollen nach Ungarn.
"Bosch ist nicht mehr das Unternehmen mit sozialer Verantwortung für seine Beschäftigten", sagt Karin Solda. Sie ist Betriebsratsvorsitzende im Power Tools-Stammwerk in Leinfelden. Am vergangenen Mittwochnachmittag (21. Mai) steht sie auf der Ladefläche eines Unimog der IG Metall vor dem Werk, redet zu ihren Leuten und zu den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Boschwerken, auch Arbeiter:innen aus benachbarten Firmen sind gekommen. "Heute geht es bei Bosch nur noch um Gewinnmaximierung", ruft sie. Die Leute buhen.
Solda berichtet, wie das Unternehmen den Betriebsrat ständig unter Druck setze: "Wir sollen verhandeln, heißt es dauernd. Aber wir brauchen erst die Unterlagen." Bis die endlich gekommen seien, habe es gedauert. Nun will der Betriebsrat mit der IG Metall erst mal eruieren, auf welcher Grundlage der Beschluss für die Schließung gefallen ist. Max Czipf, zweiter Bevollmächtigter der IG Metall Esslingen, sagt: "Die Geschäftsführung behauptet, sie hätten alle alternativen Szenarien durchgespielt. Diese Szenarien würden mich interessieren." Und sie wollen ein alternatives Konzept entwickeln, um die Produktion in Leinfelden zu halten, haben sich dafür die Stuttgarter Unternehmensberatung IMU ins Boot geholt. Erwartet Czipf, dass die Gegenseite tatsächlich verhandlungsbereit ist? "Bereit ist sie wahrscheinlich zunächst nicht", sagt er. "Dazu müssen wir sie bringen."
Leinfelden ist einer von vier Teilorten der Stadt Leinfelden-Echterdingen, 41.000 Einwohner:innen, südlich von Stuttgart gelegen. Gerade mal 15 Kilometer sind es bis zum Herzen des Boschkonzerns, der Schillerhöhe in Gerlingen. Einst war das Unternehmen nicht nur für seine hochwertigen Produkte, sondern auch für einen respektvollen Umgang mit den Beschäftigten bekannt. Viele Demo-Teilnehmer:innen tragen bei der Kundgebung T-Shirts mit dem Konterfei Robert Boschs und der Aufschrift: "Robert komm zurück – wir brauchen dich". Begonnen hat der Unternehmensgründer Robert Bosch 1886 mit einer Werkstatt für Feinmechanik und Elektrotechnik, heute beschäftigt die Robert-Bosch-Group weltweit 417.900 Menschen, 129.600 davon – noch – in Deutschland.
Scheibchenweise Jobs gestrichen
Karin Solda wirkt etwas müde, als sie sich nach der Kundgebung im Foyer des Betriebs auf eines der hellgrauen Sofas setzt. "Das tut gut. Den ganzen Tag stehen, ist irgendwie nix mehr." Vor 40 Jahren hat die heute 58-Jährige hier in Leinfelden bei Bosch angefangen, gleich nach der Lehre bei Breuninger. "Aber ich wollte nicht in den Verkauf." Damals seien sie noch um die 1.500 Leute in der Fertigung gewesen, sagt sie. 17 Jahre arbeitete sie im Controlling, 2002 wurde sie in den heute 19-köpfigen Betriebsrat gewählt und gleich freigestellt. Sie hängt eigentlich an ihrer Firma. Eben auf dem Unimog hat sie ihre Rede emotional beendet: Sie stimmte "You‘ll never walk alone" an. Viele der knapp 1.000 Gekommenen haben mitgesungen.
Nicht erst die vergangenen Wochen waren anstrengend für Solda und ihre Betriebsratskolleg:innen, sondern schon die vergangenen Jahre. Denn das Boschmanagement ist seit geraumer Zeit dabei, den Standort in Leinfelden zu verkleinern. Außer im Werk, in dem die jährlich etwa 270.000 Elektrowerkzeuge produziert werden, von denen viele in deutschen Kellern liegen dürften, arbeiten hier noch etwa 1.500 im indirekten Bereich, also Entwicklung, Forschung, Verwaltung. Bereits 2017 verhandelten Betriebsrat und Gewerkschaft mit der Unternehmensleitung einen Sozialplan und Interessenausgleich zum Personalabbau. Demnach sollten bis 2023 von den 510 Produktions-arbeitsplätzen etwa die Hälfte abgebaut werden. Solda: "Das Ziel wurde bereits vor 2023 erreicht." Im Grunde sei ihr da schon klar gewesen: "Die kommen wieder."
Die Befürchtung war berechtigt. Zumal Bosch 2023 verkündete, in den nächsten Jahren bei Elektromotoren, Software und in der Lenkungssparte 3.900 Stellen in Deutschland abzubauen. 2024 war Power Tools dran: Vor allem im indirekten Bereich müssten Stellen gestrichen werden. Auch das wurde mit der Arbeitnehmervertretung ausgehandelt. Und nun also die Schließung der Produktion bis Ende 2026. Max Czipf schätzt, dass es dabei nicht bleiben wird. Scheibchenweise würde der Standort verkleinert, bis man irgendwann sagen kann, er sei zu groß und es wäre besser, alles rund um die Werkzeuge an einem Standort zu konzentrieren.
Deutsche Industrie fühlt sich wohl in Orbáns Ungarn
Und zwar offenbar in Ungarn, konkret in Miskolc, wo Bosch Power Tools seit 2001 einen Standort betreibt und heute etwa 3.800 Männer und Frauen beschäftigt. Anfang 2023 verkündete das Unternehmen, dort 182 Millionen Euro in die Erweiterung der Produktion und in ein neues Logistikzentrum zu investieren. Laut der regierungsnahen Nachrichtenseite "Ungarn heute" subventionierte Ungarn das Projekt mit 25,9 Millionen Euro. Bereits zwei Jahre später wurde eröffnet, der Außen-und Handelsminister Péter Szijjártó freute sich und hob hervor, dass "das Unternehmen heute zum größten Arbeitgeber unter den ausländischen Industrieunternehmen in Ungarn geworden ist und rund 18.300 Menschen beschäftigt".
Ungarn ist beliebt bei der deutschen Industrie. Ob Audi, BMW, Mercedes, Eberspächer, Balluff – sie alle haben dort Niederlassungen, die sie erweitern, die Produktion dorthin verlegen. Dass Ungarn laut Transparency International auch 2024 wieder als korruptestes Land innerhalb der EU gilt, scheint für die Investoren keine Bedeutung zu haben.
Im September vorigen Jahres veröffentlichte das Institut für europäische Politik eine Studie über deutsche Unternehmen in Ungarn. Beschrieben wird, wie Orbán und seine Fidesz-Leute dort – auch deutsche – Unternehmen unter Druck setzen, um sie dazu bringen, ihre Firmen an ungarische Getreue abzutreten. Betroffen waren (und sind) vor allem Energie-und Telekommunikation sowie Dienstleistungen. Industrieunternehmen werden nicht nur in Ruhe gelassen, sie werden umworben mit Subventionen, Steuerrückzahlungen und die Kontakte der Vorstände zur ungarischen Regierung sind offenbar unkompliziert, wie der ungarische oppositionelle Journalist Szabolcs Panyi vor einigen Jahren in einer umfangreichen und preisgekrönten Reportage beschrieb.
Befördert werden die deutsch-ungarischen Beziehungen auch politisch, ganz vorne dabei: die baden-württembergische CDU. Erst im März hatte Justizministerin Marion Gentges, CDU, den ungarischen Außen- und Handelsminister Péter Szijjártó empfangen, angeblich, um über die Ukraine zu sprechen – was auch immer eine Landesjustizministerin damit zu tun haben mag. Am selben Tag traf der ungarische Minister auf Einladung vom einstigen Daimler-Vorstand und Russland-Fan Klaus Mangold mehrere hiesige Unternehmer. Kontext berichtete. (730, Bühne für einen Rechtspopulisten)
Die Rendite ist woanders höher
Autoritär, pressefeindlich, eine gleichgeschaltete Justiz, Verfolgung von Oppositionellen und Queeren – alles egal. Es gibt Subventionen, die Unternehmenssteuern sind niedrig, die Sozialabgaben für Arbeitgeber ebenso und der Durchschnittsverdienst liegt derzeit bei etwa 1.700 Euro brutto im Monat – Tendenz steigend, da die Inflation hoch ist und es immer weniger Fachkräfte gibt. Bosch Power Tools begründet den Umzug mit "Wettbewerbs- und Preisdruck", mangelnder Nachfrage und will die "historisch gewachsenen Fertigungsstrukturen (...) zukünftig auf weniger Standorte mit hoher Kosteneffizienz fokussieren", wird Thomas Donato, Vorsitzender des Bereichsvorstand in einer Pressemitteilung zitiert. Auf deutsch: Die Produktionsabläufe passen nicht mehr.
Dem stimmt Metaller Czipf zu: "Mit einer Fertigungshalle, in die Wasser reinläuft, die voll ist mit alten Maschinen – da gibt es natürlich keinen Produktionsfortschritt." Für ihn ist klar: Bosch hat den Standort systematisch immer unprofitabler gemacht. "Die glauben nicht mehr an Made in Germany." Andere Werkzeughersteller wie Festool dagegen schafften es, in Deutschland zu produzieren. "Aber die investieren auch hier."
Bosch macht das lieber in anderen Ländern. Trotz Investitionen und Millionen für Sozialpläne verzeichnet die Bosch Gruppe 2024 einen Umsatz von 90,5 Milliarden Euro mit einem Ebit, also Gewinn vor Steuern, von 3,5 Prozent – in Zahlen 3,2 Milliarden Euro. Für die folgenden Jahre "peilt Bosch im Durchschnitt ein jährliches Umsatzplus von sechs bis acht Prozent bei einer Rendite von mindestens sieben Prozent an", schreibt der Konzern. Also ab in Niedriglohnländer, oder wie Unternehmen lieber sagen "best cost countries".
Die SPD will mit Bosch reden
Für Max Czipf steht dahinter "die blanke Gier". Bei seiner Rede auf der Kundgebung in Leinfelden verweist er auf die politisch und wirtschaftlich schwierige Situation in Deutschland. "Während sich die Gesellschaft hier den Kopf zermartert, wie die Lage zu verbessern ist, fällt Bosch nichts anderes ein, als Schließung. Das ist verantwortungslos." Dem schließt sich Andreas Stoch an. Der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion ermutigt die Protestierenden, sich zu wehren. "Ihr habt hier in den letzten Jahrzehnten für Rekordgewinne gesorgt", ruft er ihnen zu. Ja, die Welt werde verrückter und schwieriger. Aber wenn die Rendite mal etwas niedriger ist, sei das noch kein Grund, sich von den Beschäftigten abzuwenden.
Ihm geht es dabei auch um einen weiteren Blick auf die Industrie, die in Baden-Württemberg erhalten werden müsse. "Wenn die starken Löhne hier weg sind – wer kauft dann noch beim Bäcker?", veranschaulicht er die Situation und verspricht, sich auf Bundes- und auf Landesebene für den Standort einzusetzen. Im anschließenden Gespräch mit Kontext erklärt er, er werde gemeinsam mit seinem Genossen dem Bundestagsabgeordneten Nils Schmid aus dem Wahlkreis Nürtingen einen Brief an die Konzernleitung schreiben und sich auch an die Landesregierung wenden. "Klar, Unternehmensleitungen entscheiden. Aber Politik kann ja aufzeigen, dass diese Entscheidung möglicherweise schlecht ist." Es sei ein Unding, wenn die Politik sich um bessere Standortbedingungen für die Industrie wie niedrigere Energiekosten bemühe, die Unternehmen aber abwandern – und zwar ausgerechnet in Länder, die nicht gerade lupenreine Demokratien sind. Diese Entwicklungen seien gefährlich, sagt Stoch und ist überzeugt, dass politisch am Ende die AfD von solchen Entwicklungen profitiere.
Die Boschler:innen von Power Tools wollen jedenfalls weiterkämpfen. Am 14. Juni ist in der sächsischen Schweiz in Sebnitz Aktionstag. Er gehe davon aus, dass eine Menge los sein wird, sagt Czipf. "Da gibt es ja ansonsten kaum Jobs, die nach Tarif bezahlt werden." Die IG Metall Esslingen plane, mit einem Soli-Bus die Sebnitzer Kolleg:innen zu unterstützen.
Rhön- u. Saalepost (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 7 |
Die Schweinfurter Maschinen- und Automobilzulieferer stehen unter Druck und müssen neue Geschäftsfelder erschließen. Warum das Weltall Potenziale bieten könnte.
Von Marcel Jan Dinkel
Schweinfurt/Würzburg Die Umstellung auf Elektromobilität kommt zu spät, der Wettbewerb verschärft sich: Seit Monaten kämpfen die deutschen Autobauer mit einer Krise. Besonders hart trifft es Schweinfurts große Zulieferer. Ihnen bleiben Aufträge aus, während gleichzeitig die Standortkosten aufgrund hoher Energiepreise zuletzt gestiegen sind. Bis Ende des Jahrzehnts sollen in den großen Werken von ZF und Schaeffler mehrere Hundert Arbeitsplätze wegfallen. Trotz der angespannten Lage gibt es einen Lichtblick – und der kommt ausgerechnet aus dem Orbit.
Forschende des Zentrums für Telematik (ZfT) Würzburg und des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München sehen in der Raumfahrt Chancen für die angeschlagene Zulieferindustrie. Zusammen mit Betriebsräten, IG-Metall-Gewerkschaftern und Spezialisten großer regionaler Betriebe untersuchten sie in einem Workshop, wie sich deren Know-how auf neue Märkte übertragen lässt. Dabei entdeckten sie, so die Gewerkschaft in einer Mitteilung, großes Potenzial.
Schnittmengen in der Mechatronik
Demnach bietet der Raumfahrt-sektor Marktchancen für Quereinsteiger, beispielsweise in der Satellitenkommunikation, die dabei hilft, auch abgelegene Gebiete zu erreichen und wo deren Ausbau am Boden wirtschaftlich nicht rentabel ist. Derartige Anwendungen können einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und digitalen Teilhabe leisten.
Professor Klaus Schilling vom Zentrum für Telematik (ZfT) sieht viele Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit. In der Raumfahrt gebe es zunehmend technologische Überschneidungen mit etablierten Industrien wie dem Automobilsektor und dem Maschinenbau. Diese betreffen Bereiche wie Leichtbau, Mechatronik, Präzisionsfertigung sowie Test- und Qualitätssicherungssysteme. "Das eröffnet neue Märkte und Marktteilnehmer, sowie hervorragende Chancen für Zusammenarbeit und Technologietransfer", so der Wissenschaftler.
Ein Trend, an den die lokale Industrie anknüpfen könnte. Laut Alexander Ziegler vom ISF München beherrschten die Unternehmen der Region die Entwicklung und Serienfertigung hochwertiger Industriegüter. Eine Stärke, die Start-ups und Innovatoren aus der Zukunftsbranchen oft fehlten. "Eine große Chance für die Region besteht darin, diese Kompetenzen zu bündeln und die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Akteuren aus Zukunftsfeldern zu fördern", so der Soziologe. Dazu passt, dass die neue Bundesregierung verstärkt in Forschung und Zukunftstechnologien investieren will.
In den letzten Jahren ist in Unterfranken rund um das ZfT ein Raumfahrt-Ökosystem entstanden. Hochschulen, Start-ups und Firmen arbeiten hier aktiv an der industriellen Erschließung dieses Zukunftsmarkts und suchen gezielt Partnerschaften mit Unternehmen. Initiiert wurde die Veranstaltung über das Netzwerk der IG Metall Schweinfurt. "Wir verstehen uns nicht nur als Interessenvertretung, sondern auch als Ideengeber für eine starke industrielle Zukunft in unserer Region", so Thomas Höhn, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Schweinfurt.
Der Workshop habe gezeigt, welches Potenzial in der Verbindung von Raumfahrttechnologie und heimischer Industrie stecken kann – und wie wichtig es ist, gemeinsam neue Wege zu denken." Insgesamt sechs Betriebe, die zusammengenommen mehr als 20.000 Arbeitsplätze in der Region stellen, nutzten diese Möglichkeiten.
Regionalstudie wird Ende November veröffentlicht
Die Veranstaltung war Teil des gewerkschaftlichen Projekts "RegioTrans-MR". Es zielt darauf ab, Perspektiven für die Industrieregion Main-Rhön mit einem sozialpartnerschaftlichen Ansatz zu entwickeln. Geleitet wird es vom ISF München, welches darin mit der IG Metall Schweinfurt kooperiert. Die Gelder stammen aus Mitteln der Hans-Böckler-Stiftung. Ergebnisse der Regionalstudie sollen Ende November 2025 in Schweinfurt vorgestellt werden.
Studie: Pläne der Regierung könnten zwölf-Stunden-Arbeitstage ermöglichen n-tv Online am 30.05.2025 |
Pläne zur Lockerung der Höchstarbeitszeit stoßen auf Widerstand n-tv Online am 30.05.2025 |
Alle weiteren Quellen: WirtschaftsWoche Online
Wochenarbeitszeit ermöglicht Zwölf-Stunden-Tage tagesschau.de am 30.05.2025 |
Alle weiteren Quellen: Abendzeitung Online • Badische Zeitung Online • Frankfurter Rundschau Online • Kölner Stadt-Anzeiger Online • Münchner Merkur Online • nd Online • Neue OZ Osnabrücker Zeitung Online • Neue Westfälische Online • Ruhr Nachrichten Online • Stern Online • Stuttgarter Zeitung Online • Südkurier Online • tz Online
Studie: Wochenarbeitszeit würde Zwölf-Stunden-Tage erlauben Zeit Online am 30.05.2025 |
Alle weiteren Quellen: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online • Handelsblatt Online • nordbayern online • Süddeutsche Zeitung Online • Tagesspiegel online, Der • WirtschaftsWoche Online
Tagesspiegel online, Der am 30.05.2025 |
Die Bundesregierung will statt einer täglichen Höchstarbeitszeit eine wöchentliche einführen. Arbeitsrechtler befürchten wirtschaftlich kontraproduktive Folgen.
Auch Hans-Böckler-Stiftung kritisiert neue Wochenarbeitszeit-Pläne der Bundesregierung Deutschlandfunk Online am 30.05.2025 |
Deutschlandfunk Online am 30.05.2025 |
Abschaffung des Acht-Stunden-Tags? Studie zeigt fatale Folgen der Merz-Pläne Münchner Merkur Online am 30.05.2025 |
Die neue Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz hat mit ihren Plänen zur neuen wöchentlichen Höchstarbeitszeit eine Welle der Kritik losgetreten. Die möglichen Folgen seien groß, meinen Forscher.
Alle weiteren Quellen: Frankfurter Rundschau Online • tz Online
Neue Grundsicherung statt Bürgergeld: Wie viel Geld könnten Empfänger bald bekommen? Südkurier Online am 30.05.2025 |
Gute Arbeit |
Frankfurter Allgemeine Zeitung (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 33 |
Diabetes, Krebs, psychische Krankheiten: Jeder zehnte Deutsche hat einen Schwerbehindertenausweis. Anzusehen ist er den wenigsten. Was er im Berufsleben bedeutet.
Eine giftgrüne Karte, darauf in schwarzen Buchstaben ein Wort wie ein Vorschlaghammer: schwerbehindert. Der Gesunde denkt nun an Rollstuhlfahrer, an Menschen mit Downsyndrom oder einen Blinden mit Stock. Er denkt nicht an die gleichaltrige Kollegin aus dem Nachbarbüro oder den Hausmeister. Auch die Abteilungsleiterin wird ihm nicht einfallen. Hinter dem wuchtigen Begriff Schwerbehinderung stecken unzählige Krankheitsbilder, und viele bleiben dem ahnungslosen Auge verborgen. Ebenso, was das in Plastikform manifestierte Etikett mit sich bringt, psychologisch wie arbeitsrechtlich.
Rund 7,9 Millionen Deutsche besaßen dem Statistischen Bundesamt zufolge Ende Dezember 2023 einen Schwerbehindertenausweis. Gemessen an der Gesamtbevölkerung, wird also jedem Zehnten ein Behinderungsgrad von mindestens 50 zugesprochen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, dass Betroffene fünf Jahre nach dem Auftreten ihrer Schwerbehinderung eine um 16 Prozent niedrigere Wahrscheinlichkeit haben, erwerbstätig zu sein. Auch bekommen sie nach fünf Jahren im Schnitt etwa sieben Prozent weniger Lohn.
Diese Zahlen müssen jedoch nicht für alle gelten. Schwerbehinderungen "behindern" das Leben individuell, für manche mehr, für manche weniger. Manchmal weiß selbst das enge Umfeld über Jahre hinweg nicht Bescheid, manchmal kann ein Mensch von einem Tag auf den anderen kaum noch arbeiten. Die größte Gruppe machen diejenigen im Alter von 65 und mehr aus, allerdings steigen die Zahlen bereits ab 45 fast um das Doppelte an. Ob Diabetes, Krebs, Übergewicht oder psychische Krankheiten, das Risiko nimmt mit den Jahren signifikant zu. Rechnet man die Zahlen derjenigen im erwerbsfähigen Alter von 18 bis 65 zusammen, ergibt das rund drei Millionen Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt mit einer Schwerbehinderung. Sie sind nicht verpflichtet, diese offenzulegen, weder vor dem Chef noch den Kollegen. Weiß der Arbeitgeber allerdings nicht von der Schwerbehinderung, können die Rechtsansprüche, die damit einhergehen, auch nicht geltend gemacht werden.
Silke Volga-Liehn ist schwerbehindert. Das Hörvermögen der 50-Jährigen beträgt noch 40 Prozent auf beiden Ohren. Die Schwerhörigkeit zieht sich durch die Familiengeschichte, der Opa, die Mutter, die Schwester, die eigene Tochter. Für ein Treffen schlägt Volga-Liehn ein Eiscafé vor, darin klappern, lachen und lärmen Familien, dass sich schon normal Hörende konzentrieren müssen, um etwas zu verstehen. Volga-Liehn stört sich nicht daran, sie achtet auf die Lippenbewegungen des Gegenübers. Wie alle in ihrer Familie hat sie einwandfrei sprechen gelernt. Ihre zierlichen Hörgeräte fallen kaum auf. Als behindert hat sie sich nie empfunden, mit dem Schwerbehindertenausweis eher gefremdelt. Ihr Vater, normal hörend, habe seinen Kindern immer eingeimpft, dass sie ganz normal seien. "Er hat uns das richtige Selbstbewusstsein mitgegeben." Die Schwerhörigkeit habe die Mädchen nicht einschränken sollen.
Umso schwerer fiel es Volga-Liehn, sich einzugestehen, nicht mehr alles so hinzukriegen wie andere. Die Corona-Zeit war hart. Mit den Masken und Abstandsgeboten schrumpfte der Radius für normale Gespräche in sich zusammen. Dabei redet sie hauptberuflich und gern. Ihr halbes Berufsleben hat sie bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Frankfurt verbracht. Erst in der Poststelle, heute im internen Service-Center für Kollegen mit Fragen aller Art, vom Shuttleservice bis zur Raumbuchung.
Das Hörvermögen der 50-Jährigen nimmt kontinuierlich ab, seit zwei Jahren trägt sie zudem eine Brille. Wenn jemand am Schalter steht und gleichzeitig das Hotline-Telefon klingelt, überträgt es den Klingelton auf die Hörgeräte, und Volga-Liehn versteht kein Wort mehr. Dann hat sie womöglich die Brille vergessen, muss zurück an ihren Platz, und schon klingelt das Telefon wieder. "Irgendwann habe ich gesagt, ich kann das nicht mehr, es macht mich richtig fertig, und ich muss mich ständig jedem erklären."
Das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs regelt die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft. Der dicke Wälzer schlüsselt insbesondere das Berufsleben der Betroffenen auf, legt Vorschriften für den Arbeitgeber und Rechte des Arbeitnehmers fest. Es bestimmt, dass jeder Betrieb mit mindestens fünf unbefristet angestellten schwerbehinderten und gleichgestellten Mitarbeitern die Wahl einer Vertrauensperson zu gewährleisten hat. Diese muss nicht unbedingt schwerbehindert sein, nimmt aber eine Schlüsselrolle ein, wenn es um Beratung, Vermittlung und Hilfe bei Problemen im Arbeitsumfeld geht. Sie hat ein Mitspracherecht im Betriebsrat, nimmt auf Wunsch an Personalgesprächen teil und ist zum Stillschweigen verpflichtet. Der Gesetzgeber hat ihre Amtszeit mit der Möglichkeit zur Wiederwahl auf vier Jahre festgelegt. Die Schwerbehinderten wählen ihren Vertreter während einer eigens dafür einberufenen Versammlung selbst.
Siegmund Schillumeit redet nicht lange um den heißen Brei herum. Der Mann mit dem Weihnachtsmannbart hat in den vergangenen sieben Jahren viele Stunden einfach nur zugehört. Und noch mehr mit Konflikten verbracht, sei es mit Ämteranträgen, dem Arbeitgeber oder Kollegen. Sein Job liegt irgendwo zwischen Seelsorger und Gesetzesexperte. Als er 2018 zum Schwerbehindertenvertreter des Caritasverbands im Kreis Warendorf gewählt wurde, arbeitete Schillumeit noch als Gruppenleiter in einer Behindertenwerkstatt. Heute betreut er rund 90 Mitarbeiter. Nicht alle haben ihre Einschränkungen dem Umfeld offengelegt, manche aus
Scham, manche aus Furcht vor Seitenhieben und Diskriminierung. Eine Entscheidung, die ihr Vertreter nachvollziehen kann: "Alles, was mit Anfallsleiden zu tun hat, zum Beispiel Diabetes oder Epilepsie, empfehle ich, den Kollegen mitzuteilen. Wenn dann jemand aus den Latschen kippt, wissen sie, was sie zu tun haben."
Bei anderen Behinderungen mahne er mittlerweile zur Vorsicht. Nicht jeder könne damit umgehen, insbesondere in körperlich wie psychisch fordernden Berufen, in denen Dienstpläne chronisch unterbesetzt und Fachkräftemangel ein Dauerproblem sind. Eine Situation, die Schillumeit schon oft erlebt hat. "Ich habe immer gesagt, wir sind eine Einrichtung der Behindertenhilfe. Hier würde jeder Mitarbeiter für einen Menschen mit Behinderung alles tun – solange es kein Kollege ist." Diese harsche Aussage erklärt er so: Die Bereitschaft der Mitarbeiter, für die Klienten bis ans Äußerste zu gehen, ist groß und wird regelmäßig strapaziert, das liege in den Berufen in der Natur der Sache. Wenn dann jemand essenzielle Arbeiten nicht mehr übernehmen kann, wächst die sowieso schon hohe Belastung. Sarkastische Sprüche à la "War klar, dass der Schwerbehinderte wieder krank war" können im Caritasverband Abmahnungen zur Folge haben. Auf der anderen Seite gibt es beispielsweise Möglichkeiten zur finanziellen Entschädigung der Kollegen, wenn diese Extraaufgaben übernehmen müssen.
Ein Schwerbehindertenvertreter wie Schillumeit versucht in solchen Situationen zu vermitteln. Er macht Vorschläge, welche Maßnahmen den Arbeitsalltag des Mitarbeiters erleichtern könnten, und zieht externe Partner wie die Integrationsämter hinzu. Im Zweifel sucht er gemeinsam mit dem Betroffenen nach einer anderen Einsatzmöglichkeit im Betrieb. Schillumeit betreut aktuell einen Pfleger, der den Beruf wegen seiner Einschränkungen nicht mehr ausüben kann. In Fällen wie diesem gebe es den Moment, in dem die Schwerbehinderung gegenüber Arbeitgeber und Kollegen kommuniziert werden müsse: "Da sollte man mit dem Team drüber sprechen und offen damit umgehen. Er kann nichts dafür, deswegen trifft ihn auch keine Schuld."
Mit seinem Arbeitgeber offen über die eigene Schwerbehinderung zu reden, ermöglicht, Rechte wie fünf zusätzliche Urlaubstage, einen Schutz vor Kündigung auf Basis der Schwerbehinderung oder einen früheren Renteneintritt in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig kann Offenheit für Verständnis sorgen und den Druck aus Konflikten nehmen. Auf der anderen Seite steht die Angst vor Diskriminierung und dem Stigma, als nicht mehr vollwertig leistungsfähig wahrgenommen zu werden.
Mathilde Niehaus ist Inhaberin des Lehrstuhls für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln. Zusammen mit ihrer Kollegin Jana Bauer entwickelte sie die Projekte "Sag ich’s? Chronisch krank im Job", ein webbasierter Selbsttest, und "Vorbildlich in Führung gehen! Mit Role Models Inklusion in Arbeit stärken". Letzteres geht von der Annahme einer Vorbildfunktion von Führungskräften mit Behinderungen aus. Sie könnten Entwicklungen zu einer inklusiveren Unternehmenskultur anstoßen. Bauer sieht eine Chance darin, sich für Transparenz zu entscheiden: "Viele denken, sie wären allein. Wenn sich einer traut, sich verletzlich zu machen, können andere andocken." Bis zu einer Gesellschaft, in der Betroffene ohne Furcht vor Konsequenzen von ihrer Behinderung erzählen können, ist es noch ein weiter Weg.
Im Arbeitsleben wären zusätzliche Schulungen für Führungskräfte und ausgebaute betriebliche Gesundheitsmanagements mögliche Maßnahmen. Fest steht: Eine Schwerbehinderung konfrontiert den Gesunden mit einer "elementaren Verunsicherung", nämlich mit der potentiell fragilen eigenen Gesundheit, sagt Niehaus.
Silke Volga-Liehn ist mit ihren Einschränkungen immer offen umgegangen. Als sie den Entschluss gefasst hatte, dass sich etwas ändern muss, ging die 50-Jährige zu ihren Chefs und zeigte ihnen die Ergebnisse des Hörakustikers. Zwar war die Behinderung bekannt, trotzdem wurden die Augen angesichts des Ausmaßes groß. Die Schwerbehindertenvertretung und das Integrationsamt griffen Volga-Liehn unter die Arme. Sie sitzt nun im Einzelbüro und kümmert sich hauptsächlich um Onlinetickets. Beim Umzug ins Neubaugebäude ist der Vertreter des Integrationsamts mit an Bord. Er engagiert einen Tontechniker, der prüft, wie der Schall im Raum verbessert werden könnte. Und manchmal sind kleine Schritte schon große Verbesserungen: Die Hotline, deren Klingeln Volga-Liehn einschränkte, wurde lautlos gestellt und durch eine blinkende Lampe ersetzt.
Tagesspiegel (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 20 |
"Frauen verlieren um 60 Prozent im Einkommen, sobald sie Kinder haben"
Frau Holten, um den Fachkräftemangel zu verringern, sollen Frauen mehr arbeiten, heißt es im Koalitionsvertrag. Teilzeitkräfte, die ihre Arbeitszeit erhöhen, sollen eine Prämie bekommen. Wie finden Sie das? Ich bin Feministin und finde es erst mal gut, wenn Frauen mehr Geld verdienen und dadurch finanziell unabhängig sind. Das schützt sie beispielsweise davor, in gewaltvollen Ehen wegen Geldmangels gefangen zu sein.
Viele Frauen arbeiten in Deutschland aber ja nicht, weil sie nicht arbeiten wollen. Sie können nicht. Deutschland fehlen Institutionen, die es vielen Frauen ermöglichen, Vollzeit zu arbeiten. Dazu kommen die in Deutschland starken kulturellen Erwartungen, wie viel Zeit man mit Pflegearbeit verbringen sollte. Es geht um die Frage, was eine gute Mutter ausmacht.
Auch für diesen kulturellen Wandel bräuchte es ein besseres Betreuungssystem. Genau. Wenn Kanzler Friedrich Merz Arbeitsstatistiken für Frauen will, wie wir sie in Dänemark haben, muss er in Pflegesysteme investieren. Als Dänemark anfing, in Pflege zu investieren, passierten zwei Dinge: Frauen hatten die Möglichkeit zu arbeiten, weil es ein Pflegesystem für Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung gab. Und es wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, nämlich in Pflegesektoren oder im öffentlichen Dienst.
Dumm nur, dass diese Sektoren nicht besonders gut bezahlt sind. Sollte man Frauen dazu raten, sich andere Branchen zu suchen, in denen sie mehr verdienen? Das war lange die feministische Strategie. Damit haben wir gezeigt, dass Frauen genauso gut sein können wie Männer. Aber wir haben unterschätzt, wie wichtig und wertvoll die Arbeit in der Pflege ist. Wir sollten nicht versuchen, das Leben von Frauen dem von Männern anzugleichen, sondern umgekehrt. Wir können keine Gesellschaft haben, in der sich niemand um die Pflege kümmern will, weil die Umstände so schlecht sind.
Aber was haben Männer davon, mehr wie Frauen zu arbeiten? Es stimmt: Wenn wir wollen, dass Frauen mehr Erwerbsarbeit leisten, dann müssen die Männer mehr zu Hause sein. Was mich aber wirklich gefreut hat: Nach der Lektüre meines Buches haben mir Männer gesagt, dass es ihnen die Augen geöffnet hat. Sie haben gemerkt, dass sie durch die viele Erwerbsarbeit auch viel verpasst haben, was das Leben lebenswert macht. Dazu kommt ein positiver Nebeneffekt.
Der wäre? Wenn Männer sich mehr um Kinder kümmern, sich mehr im Haushalt engagieren, kann das auch die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz verringern. Einfach, weil das Leben von Männern und Frauen sich dann angleichen würde.
Es gibt bereits eine Menge Versuche, Frauen das Arbeiten zu ermöglichen. Homeoffice zum Beispiel. Warum hat eigentlich keine Maßnahme bisher so richtig was gebracht? Na ja, es gibt Fortschritte, aber sie sind oft auf privilegierte Sektoren beschränkt. Flexibles Arbeiten funktioniert in gut bezahlten Sektoren mit sehr gut ausgebildeten Menschen. Aber ein Taxifahrer oder eine Krankenschwester hat diese Möglichkeit nicht. Wir sollten Pflege nicht nur als Last – meist für Frauen – sehen. Wir könnten Pflege auch als Recht sehen, das Männern aktuell oft verwehrt wird.
Wenn wir das Recht auf Pflege umsetzen, müssen wir Steuern erhöhen... Wenn Männer sich mehr kümmern, könnten Frauen mehr arbeiten und mehr Steuern zahlen.
Warum ist Care-Arbeit eigentlich so schlecht bezahlt? Erstens wegen Macht. Frauen sind in der Pflege überrepräsentiert und haben wenig politische Macht. Man konnte diese Dienstleistungen billig bekommen. Zweitens ist Pflegearbeit schwer zu quantifizieren und in ein Produkt zu verwandeln. Pflege ist eine langfristige Investition. Man weiß nicht, was Pflege konkret bewirkt. Das macht sie schwer messbar für Ökonomen.
Wozu führt das? Momentan nutzen wir Preise, um Wert zu bestimmen. In den Bereichen Pflege und Haushalt sind jedoch die Preise ein sehr schlechtes Maß. Den tatsächlichen Wert der Leistungen stellen sie einfach nicht dar. So unterschätzen wir den kurz- und langfristigen Wert der Beiträge von Frauen zur Lebensqualität und zur Wirtschaft. Dabei wünschen sich viele Menschen mehr Betreuungsangebote, mehr Gesundheit und mehr Pflege. Weil wir aber die Care-Arbeit und die Beschäftigten unterbewerten, bekommen wir weniger von diesen Leistungen.
Wie können wir Pflegearbeit mehr Wert geben? Indem wir anerkennen, dass Preise nie Wert gemessen haben. Wert ist eine politische Entscheidung. Wenn Sie eine Gesellschaft mit mehr Krankenschwestern wollen, dann sind Krankenschwestern sehr wertvoll.
Na gut, man könnte ja für Pflege mehr bezahlen und sie stärker im Bruttoinlandsprodukt (BIP) berücksichtigen. Das funktioniert nicht. Selbst wenn wir einen Preis auf unbezahlte Pflege setzen, was würde uns das sagen? Würde es uns etwas über die Bedeutung der Zeit mit einem Kind sagen? Über die positiven Effekte guter Pflegearbeit in 10, 20, 50 Jahren? Diese Zahl würde uns das nie sagen.
Aber die bessere Bezahlung würde der Pflegearbeit vielleicht einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft geben und Frauen und Männer ein wenig gleicher stellen? Vielleicht, wenn wir beispielsweise Mütter für die Kindererziehung bezahlen würden. Es würde das Problem kurzfristig lösen und es sichtbar machen. Aber wir sollten uns eher fragen, warum so etwas Wichtiges unsichtbar, fast unwirklich, wird, sobald es keinen Preis hat. Warum brauchen wir Preise, um zu sagen, dass etwas existiert und wichtig ist?
Was wären denn Ihre Indikatoren? Leben alle Menschen gleich lange, egal, wie reich sie sind? Kann jeder lesen und schreiben? Und hat jeder Zugang zu Ruhe, Entspannung? Das kann eine Idee eines guten Lebens sein. Lange Zeit dachten wir, dass Wirtschaftswachstum, Produktivität und Effizienz an sich ein gutes Leben schaffen würden. Aber Effizienz oder Produktivität allein können den Menschen keine Freude und Gesundheit bringen, dazu braucht man die Politik.
Klingt alles nett, aber wenn wir Ihre Idee weiterdenken, fehlt es zumindest kurzfristig an Anreizen. Anreize für wen? Menschen leisten bereits Pflegearbeit ohne wirtschaftlichen Anreiz. Frauen verlieren in Deutschland um 60 Prozent im Einkommen, sobald sie Kinder haben. Wenn jeder Geld bräuchte, um etwas zu tun, würden keine Frauen Kinder bekommen. Wir sollten Pflegearbeit als kollektives Recht betrachten, nicht als individuelle Priorität. Statt zu sagen, ich habe einen individuellen Anreiz zur Pflegearbeit, könnten wir die Arbeitszeit für alle senken, um Pflegearbeit zu erleichtern.
Aber in einem globalisierten System sind wir im Wettbewerb mit anderen Ländern. Europa verliert doch diesen Wettbewerb gerade mit China. Das Land investiert massiv in Universitäten, Pflege und Infrastruktur. Wir haben lange gedacht, dass öffentliche Investitionen dem Wettbewerb schaden, aber das stimmt nicht. Deutschland ist in einer Industrie- und Produktivitätskrise, aber auch in einer sozialen und kollektiven Pflegekrise. Das zeigt sich in der sozialen Zersplitterung, dem Vertrauensverlust in die Demokratie und der politischen Polarisierung. (HB)
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Meist sind es Frauen, die mit dem ersten Kind bei der Karriere zurückstecken. Trotzdem sollten sie Männern nicht beruflich nacheifern, so Holten.
Infobox
Zur Person
Emma Holten wurde 1991 geboren und ist Mitglied des Sachverständigenforums des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen und des Beratungsausschusses für Frauenrechte von Human Rights Watch. Sie beschäftigt sich in diesen Funktionen vor allem mit Fragen der feministischen Ökonomie. Seit 2023 berät sie die dänische Regierung im Untersuchungsausschuss zu Machtverhältnissen in Dänemark. Sie trat außerdem als Rednerin bei der Uno auf. Emma Holten lebt in Kopenhagen.
Holtens erstes Buch, "Unter Wert – Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt", erschien 2024 erstmals in Dänemark. Ihr Buch wurde mehrfach ausgezeichnet und in ihrem Heimatland zum Bestseller.
Herausforderungen der Globalisierung |
Besuch bei Trump Merz auf heikler Mission in Washington Handelsblatt (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 6-7 |
Der Bundeskanzler reist in die USA. Wird er hofiert oder bloßgestellt? Treffen mit Trump sind unkalkulierbar, aber Merz bringt Argumente mit, die dem US-Präsidenten gefallen dürften.
Friedrich Merz hat sich intensiv auf seinen Besuch in Washington vorbereitet, vier Mal schon hat er mit Donald Trump telefoniert – und sehr genau zugehört. Jedes zweite, dritte Wort von Trump sei "great", witzelte der Kanzler vergangene Woche auf einer Europatagung. Merz weiß aber auch: Was Trump nicht "great" findet, ist schnell "very, very bad" – und dann wird es unangenehm.
Ein Besuch im Weißen Haus ist ein hochriskantes Unterfangen. Harmonisches Tête-à-Tête oder diplomatischer Eklat, beides ist möglich. Gerade für den Kanzler steht viel auf dem Spiel. Wenn Merz am Donnerstag von Trump empfangen wird, ist sein wichtigstes Ziel: den US-Präsidenten davon zu überzeugen, den Druck auf Russland zu erhöhen – und die Politik der Äquidistanz zu Kiew und Moskau zu beenden.
Die Europäer hoffen darauf, die USA wieder auf ihre Seite ziehen zu können. Neue, abgestimmte Sanktionen gegen Russland sollen Kremlherrscher Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zwingen und einen Waffenstillstand in der Ukraine ermöglichen. Die militärische Lage ist aus Sicht der Ukraine zunehmend kritisch. Am Wochenende gelang es der Ukraine, vier russische Militärflughäfen zu attackieren. Nach ukrainischer Darstellung wurden über 40 russische Kampf- und Aufklärungsflugzeuge zerstört.
Im Zentrum der Gespräche stehen außerdem wirtschaftliche Themen. Der Handelsstreit mit den USA, ausgelöst durch Trumps Zollpolitik, hat sich zuletzt wieder verschärft. "Wir brauchen schleunigst Erfolg in Handelsfragen", hieß es am Wochenende in Regierungskreisen. So dürfte Merz für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Europa werben.
Tipps für das Trump-Management sammelte Merz auch während des Besuchs beim finnischen Präsidenten Alexander Stubb und in einem Telefonat mit dem südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa. Stubb ist es gelungen, Trump um den Finger zu wickeln. Ramaphosa verstand sich darauf, Attacken des Amerikaners zu parieren – ohne Eskalation wie beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Februar.
Grundsätzlich ist der Optimismus in Regierungskreisen groß. Merz habe "gute Karten", da Trump den neuen "Führungstyp" in Deutschland begrüße und sehe, dass das Land wieder die Führungsrolle in Europa beanspruche. Trump sei inzwischen sogar "sehr deutschlandfreundlich" und betone seine deutschen Wurzeln ("german blood"). Beide duzen sich inzwischen, haben Mobilfunknummern ausgetauscht und schreiben sich Kurznachrichten. Die Chance, dass Trump das Treffen mit Merz am Ende als "great" preist, ist erstaunlich gut. Trump wird den Kanzler im Gästehaus des Präsidenten, dem Blair House neben dem Weißen Haus, übernachten lassen – eine besondere Ehre, die womöglich auch mit den ersten politischen Weichenstellungen der Merz-Regierung zusammenhängen.
Die schrillen Vorwürfe der US-Regierung wegen der vermeintlichen Internetzensur in Europa und der Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz, die die Schlagzeilen bestimmten, verdecken, dass die großen Vorhaben der Merz-Regierung im Trump-Lager ausgesprochen gut ankommen. Der Kanzler hat sich dazu bekannt, perspektivisch fünf Prozent der Wirtschaftskraft in die Verteidigung zu investieren. 3,5 Prozent sollen direkt in die Verteidigung fließen, weitere 1,5 Prozent in die Infrastruktur. Deutschland ist Drehscheibe der Nato, da müssen im Bündnisfall an der Ostflanke Straßen, Brücken, Schienenwege, See-und Flughäfen funktionieren. Mit den neuerlichen Zusagen würde Merz das beenden, was Trump als sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei anprangert.
Auch dass Merz mit der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel bricht, hat sich in Washington herumgesprochen. Die Altkanzlerin ist eine "Persona non grata" im Trump-Kosmos.
Regierungsvertreter setzen deshalb einige Hoffnung darauf, dass Trump doch noch davon abgehalten werden kann, sich aus den Waffenstillstandsgesprächen zurückzuziehen. "Der US-Kongress ist bereit für neue Russlandsanktionen", sagte der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) vergangene Woche, als er sich mit seinem amerikanischen Amtskollegen Marco Rubio traf. Ein Gesetz, das die bisher aggressivsten Sanktionen gegen Russland vorsieht, könnte bereits in dieser Woche im Kongress zur Abstimmung gestellt werden. Der Anfang April im US-Senat eingebrachte "Sanctioning Russia Act of 2025" sieht weitreichende wirtschaftliche Strafmaßnahmen vor. Neu ist, dass auch jene Länder sanktioniert werden sollen, die den Krieg gegen die Ukraine durch Energieimporte indirekt unterstützen.
Der überparteiliche Entwurf wurde von den Senatoren Lindsey Graham (Republikaner) und Richard Blumenthal (Demokrat) initiiert. Das Ziel besteht darin, Russland durch direkte sowie erstmals auch sehr harte sekundäre Sanktionen wirtschaftlich zu isolieren. Im Zentrum stehen US-Strafzölle in Höhe von 500 Prozent auf alle Importe aus Ländern, die wissentlich russisches Öl, Erdgas, Uran oder petrochemische Produkte beziehen.
Der Trump-Vertraute Graham ist eine Schlüsselfigur für die weitere amerikanische Unterstützung der Ukraine. Einerseits hat er bei vielen Fragen das Ohr von Trump, andererseits pflegt er enge transatlantische Kontakte. So fliegt er regelmäßig in die Ukraine. Graham war anwesend, als sich Wadephul vergangene Woche mit Rubio zu vertraulichen Gesprächen traf. Womöglich kommt es in Washington auch zu einem Treffen Grahams mit Merz; beide hatten bislang ein eher kompliziertes Verhältnis. Hintergrund ist ein geplatztes Spitzentreffen zwischen Merz und Graham, das auf einem Podium 2022 stattfinden sollte. Als Merz erfuhr, dass neben Graham auch der Publizist Henryk Broder und der AfD-nahe Anwalt Joachim Steinhöfel auf der Veranstaltung sprechen sollten, sagte er seine Teilnahme ab. Graham warf Merz daraufhin vor, sich der "Cancel Culture" zu ergeben. "Das Ganze wurde nie aufgearbeitet", erinnert sich ein Insider in Washington.
Merz habe "zu lange stark ausgeprägte Berührungsängste" mit der MAGA-Bewegung gehabt, was sich durch Trumps Wahlsieg jedoch geändert habe. Die unionsnahen Vertretungen in Washington, die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) und die Hanns-Seidel-Stiftung, sind inzwischen sehr aktiv in der Vernetzung. Zudem gibt es Bestrebungen, den CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder in die US-Hauptstadt zu holen. Umgekehrt hat Merz Trump bereits in die Pfalz eingeladen, die Heimat seiner Großeltern.
Auch wenn der Antrittsbesuch durchaus mit positiven Signalen enden könnte, sorgt Trump dafür, dass er den Druck auf Europa und speziell Deutschland permanent aufrecht hält. Die aus seiner Sicht "Flut deutscher Autoimporte" kritisiert er regelmäßig, er hat Importzölle auf Fahrzeuge von 25 Prozent beschlossen. Allein den BMW-Konzern kosten die von der US-Regierung verhängten Zölle auf Autoteile und Autoimporte zehn Millionen Euro pro Tag.
Erst vor Kurzem hatte der Präsident 50 Prozent Strafzölle auf alle Einfuhren aus Europa angekündigt, was die Exportnation Deutschland schwer treffen würde. Wenig später erklärte Trump zwar, er sei offen für Verhandlungen, die Wurzeln. nun bis zum 9. Juli laufen sollen. Die Einfuhrzölle auf Stahl- und Aluminium aber setzte er am Freitag auf 50 Prozent hoch.
Möglicherweise dürfte auch das Thema europäische Digitalregulierung bei dem Besuch eine Rolle spielen. Die Trump-Regierung hat die europäischen Datenschutz- und Wettbewerbsregeln sowie Hate-Speech-Gesetze in Ländern wie Deutschland scharf kritisiert und will sie unbedingt abschaffen. Rubio drohte erst vergangene Woche drastische Visabeschränkungen an mit der Begründung, europäische Behörden würden sich an der "Zensur von Amerikanern" beteiligen.
Trump wütet bei fast jeder Pressekonferenz zu seinen Strafzöllen, die Europäer würden "ständig unsere Unternehmen verklagen". Sein Vize J. D. Vance ging sogar so weit, einen möglichen Teilabzug der US-Truppen aus Deutschland mit dem Streit um Digitalplattformen zu verknüpfen. Die Verteidigung Deutschlands werde "vom amerikanischen Steuerzahler subventioniert", so Vance. Und die US-Bürger würden es nicht hinnehmen, dass man in Deutschland für "einen gemeinen Tweet" ins Gefängnis komme.
In den nächsten Wochen stehen weitere Treffen an. Erst der G7-Gipfel in Kanada, dann der Nato-Gipfel in Den Hag. Im Juni 2025 entscheidet sich, ob Europa und Trumps Amerika doch noch zu einem Arrangement finden – oder die transatlantische Partnerschaft in einem Zerwürfnis endet.
0500 Prozent Strafzölle könnten die USA auf Importe aus Ländern erheben, die wissentlich Öl und Gas aus Russland beziehen. Das sieht ein Gesetzesvorschlag aus dem Kongress vor.
EU-Kommission droht Trump mit Gegenmaßnahmen Frankfurter Allgemeine Zeitung (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 1 |
Verdoppelung der US-Zölle auf Stahl und Aluminium / Merz am Donnerstag in USA
Von hmk./mawy.
Brüssel/Berlin. Die Europäische Kommission hat mit Unverständnis auf die von US-Präsident Donald Trump angekündigte Verdoppelung der amerikanischen Zölle auf Stahl und Aluminium reagiert. Das untergrabe die Bemühungen, eine Lösung des Streits am Verhandlungstisch zu erzielen, sagte ein Sprecher am Wochenende. "Wenn keine für beide Seiten akzeptable Lösung erreicht wird, werden sowohl die bestehenden als auch die zusätzlichen EU-Maßnahmen automatisch am 14. Juli in Kraft treten – oder früher, wenn die Umstände es erfordern." Die Abgaben sollen am 4. Juni in Kraft treten.
"Wir werden die Zölle auf Stahl in die Vereinigten Staaten von Amerika von 25 auf 50 Prozent anheben", hatte Trump zuvor während einer Kundgebung in Pennsylvania gesagt. Die EU hatte bereits in Reaktion auf die Zölle von 25 Prozent ein Paket an Gegenzöllen geschnürt. Es träfe US-Einfuhren im Wert von 21 Milliarden Euro, darunter Jeans, Motorräder und Soja. Das Volumen ist geringer als die von den US-Zöllen betroffene Ausfuhr. Diese hat einen Wert von 26 Milliarden Euro. Auch liegen die EU-Zölle nur zwischen zehn und 25 Prozent.
Die Gegenzölle sollten eigentlich schon in Kraft sein. Die EU hatte sie aber einseitig ausgesetzt, nachdem Trump im April eine 90-Tage-Pause auf seine Anfang desselben Monats verkündeten pauschalen Zölle von 20 Prozent auf die meisten EU-Importe verkündet hatte. Die EU arbeitet momentan an einem weiteren Paket an Vergeltungszöllen, das Importe im Wert von 95 Milliarden Euro treffen soll.
Über den Handelsstreit wird auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) am Donnerstag in Washington mit Trump sprechen. Ein Regierungssprecher teilte mit, dass neben der Handelspolitik die Beziehungen der beiden Länder und Themen wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Lage im Nahen Osten im Mittelpunkt des Gesprächs stehen würden. Vor der Verleihung des Karlspreises in Aachen in der vergangenen Woche hatte Merz sich zu den Verhandlungen schon mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgetauscht. (Siehe Seite 2 und Wirtschaft, Seite 15.)
Sozialpolitik |
Verbraucherpreise Deutsche Inflation nur knapp über EZB-Ziel Handelsblatt (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 28-29 |
In Deutschland geht die Teuerung leicht zurück. In Frankreich, Italien und Spanien liegt sie noch niedriger. Die Vorzeichen für den nächsten Zinsentscheid sind klar.
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird ein wichtiges Zwischenziel angesichts des globalen Zollkonflikts wohl früher als erwartet erreichen. In den vier größten Euro-Ländern hat sich die Inflation auf um die zwei Prozent abgeschwächt – teils liegt sie sogar schon deutlich darunter.
In Deutschland ist die Teuerung im Mai denkbar knapp an den Zielwert von zwei Prozent gesunken: Güter und Dienstleistungen waren 2,1 Prozent teurer als vor einem Jahr. Das geht aus der Schnellschätzung des Statistischen Bundesamts hervor.
In Spanien stiegen die Verbraucherpreise nach Angaben der dortigen Statistiker im Mai um 1,9 Prozent. In Italien schwächte sich die Inflation auf 1,7 Prozent ab. Und in Frankreich beträgt sie nur noch 0,7 Prozent.
Die Inflationsrate für die gesamte Euro-Zone dürfte nach Einschätzung von Experten somit im Mai auf exakt 2,0 Prozent gefallen sein. Womöglich steht sogar eine Eins vor dem Komma, wenn das Statistikamt Eurostat am Dienstag seine Schnellschätzung veröffentlicht – zwei Tage vor dem nächsten Zinsentscheid.
Die Vorzeichen für die Beratungen der Euro-Notenbanker in Frankfurt sind somit ziemlich klar: Es zeichnet sich die achte Zinssenkung seit einem Jahr ab. Der relevante Einlagensatz für Banken dürfte von 2,25 auf 2,0 Prozent sinken. Die Zinswende nach unten hatte die EZB im Juni 2024 bei einem Einlagensatz von 4,0 Prozent begonnen.
Im Zuge dessen senkten Banken ihre Spar-und Kreditzinsen, was der Kreditvergabe in der Euro-Zone hilft: Im April vergaben Banken an private Haushalte 1,9 Prozent mehr Kredite als vor einem Jahr. Im Firmenkundengeschäft läuft es noch besser: Die Unternehmenskredite sind im April um 2,6 Prozent gewachsen. Das zeigen am Donnerstag veröffentlichte Daten der EZB.
Seit einem Jahr vergeben Banken mehr Kredite, weil die Zinsen kontinuierlich gesunken sind. Dass sich der Trend auch im April ungebrochen fortgesetzt hat, ist durchaus bemerkenswert. Denn eigentlich hatten die Banken der EZB signalisiert, dass sie im Frühjahr etwas vorsichtiger bei der Kreditvergabe sein wollten.
Zolldrohungen der USA wirken sich auf die Preise in der Euro-Zone aus
Vergeben Banken mehr Kredite an Privatleute und Unternehmen, deutet das darauf hin, dass diese mehr konsumieren und investieren. Hält dieser Trend trotz der Unwägbarkeiten im globalen Zollkonflikt an, könnten eines Tages auch die Preise wieder stärker steigen.
Momentan drückt der von den Vereinigten Staaten angezettelte Handelskrieg jedoch die Preise in der Euro-Zone. Der Euro hat im Vergleich zum Dollar deutlich aufgewertet. Das macht Importe aus aller Welt für europäische Unternehmen günstiger.
Außerdem sind Öl und Gas seit einigen Wochen billiger geworden: Die Energiepreise waren im vergangenen Monat laut Statistischem Bundesamt 4,6 Prozent niedriger als im Mai 2024. Auch das drückt die Inflationsraten.
Bereits im April lagen die Teuerungsraten in Deutschland nur noch bei 2,1 Prozent nach nationaler Rechnung (VPI). Zehn Basispunkte höher bei 2,2 Prozent lagen sie nach europaweit einheitlicher Rechnung (HVPI). Im Mai sind es in beiden Fällen 2,1 Prozent. Im Herbst vergangenen Jahres war die Inflationsrate bereits vorübergehend unter das EZB-Ziel gefallen. Sie stieg zwischenzeitlich aber wieder an.
Der deutsche Leitindex (Dax) gab am Freitagnachmittag als Reaktion auf die Inflationsdaten einen kleinen Teil seiner Tagesgewinne ab. Anleger hofften wohl auf einen noch etwas niedrigeren Wert von glatt zwei Prozent, den Experten erwartet hatten. Der Dax verteidigte aber bisher die 24.000-Punkte-Marke. An den Börsen sind Inflationsdaten aus Europa seit einigen Monaten in den Hintergrund getreten. Anleger setzen ihre Zuversicht vor allem darauf, dass die europäischen Regierungen und die US-Administration den Zollkonflikt durch Verhandlungen beilegen können. Die Notenbanker um EZB-Präsidentin Christine Lagarde haben die Leitzin-sen seit Juni 2024 siebenmal um jeweils einen Viertelprozentpunkt (25 Basispunkte) gesenkt. Eine weitere Zinssenkung durch die EZB am kommenden Donnerstag ist von den Marktteilnehmern längst fest eingepreist. An den Märkten würde es somit für ziemliche Irritationen sorgen, sollte der achte Schritt nach unten doch ausbleiben.
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Ulrike Kastens, Volkswirtin der Deutsche-Bank-Fondstochter DWS, prognostiziert: "Während wir in der Euro-Zone im zweiten Halbjahr 2025 mit Inflationsraten von temporär unter zwei Prozent rechnen, dürfte Deutschland weiterhin leicht über der Zwei-Prozent-Marke verharren." Sie macht das am Wachstum der Löhne fest, das stärker war als im Durchschnitt der Euro-Zone.
Das schlägt sich in der Kerninflation nieder, weil hier lohnintensive Dienstleistungen dominieren. Die Kernrate ohne die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Lebensmittel ist im Mai zwar wieder etwas zurückgegangen, mit 2,8 Prozent aber weiterhin erhöht. Das Lohnwachstum dürfte sich nun aber abschwächen, erwartet die Bundesbank. Das spricht für weiterhin gemäßigte Inflationsraten in weiten Teilen der Euro-Zone. Die meisten Notenbanker haben vor diesem Hintergrund wenig Zweifel gelassen, dass sie die Leitzinsen in der Euro-Zone weiter senken wollen. Die Ökonomen der Commerzbank werten Reden, Interviews und Kommentare der Euro-Notenbanker mithilfe Künstlicher Intelligenz aus. Ihr klarer Befund: Die Kommunikation der Währungshüter deutet aktuell noch stärker auf weitere Zinssenkungen hin, als es noch um den Jahreswechsel der Fall war.
Vor diesem Hintergrund hält Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer eine Zinssenkung für "gesetzt". Tatsächlich rechnen sämtliche Experten, die von der Nachrichtenagentur Bloomberg befragt wurden, für Donnerstag mit sinkenden Zinsen. Dementsprechend erwarten die Analysten der Bank Unicredit kaum auffällige Bewegungen an den Märkten, wenn alles wie erwartet läuft.
Nur ein Notenbanker ist gegen eine Zinssenkung
Offen gegen eine weitere Zinssenkung hat sich lediglich Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann ausgesprochen. Er will keinen weiteren Lockerungsschritt mehr mittragen, bevor seine Amtszeit im August endet. Ab September wird dann sein Nachfolger, der frühere österreichische Wirtschaftsminister Martin Kocher, an Holzmanns Stelle im EZB-Rat über die Leitzinsen mitbestimmen.
EZB-Direktorin Isabel Schnabel hat sich dafür ausgesprochen, die Leitzinsen "in der Nähe ihres derzeitigen Niveaus" zu halten. Sie hat sich aber nicht explizit zum nächsten Zinsentscheid geäußert. Bundesbankchef Joachim Nagel wiederum gibt sich schon seit einiger Zeit und zuletzt am Dienstag bei einer Rede in Mannheim betont "neutral".
Somit dürfte es gegen eine Zinssenkung an diesem Donnerstag nur wenig Widerspruch seitens der nationalen Notenbankchefs geben. Anders sieht es mit Blick auf Juli aus, wenn der letzte Zinsentscheid der EZB vor der Sommerpause ansteht. Neben Schnabel und Holzmann haben auch die Notenbankchefs aus Belgien und Griechenland, Pierre Wunsch und Yannis Stournaras, eine Pause bei der übernächsten Sitzung ins Spiel gebracht.
Hitziger Streit über Verwaltungskosten der Sozialkassen Frankfurter Allgemeine Zeitung (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 19 |
Verdi wertet Arbeitgeber-Vorstoß als Attacke gegen den Sozialstaat / Krankenkassen: Streben nach mehr Effizienz
Von dc. Berlin.
Die Sozialversicherungen geben jährlich 25 Milliarden Euro für Verwaltungskosten aus. Nach Auffassung der Arbeitgeberverbände ist das unnötig viel, da sich der Administrationsaufwand durch straffere Strukturen senken lasse. Allerdings hat ihr Vorstoß, über den die F.A.Z. am Mittwoch berichtete, eine teils scharfe Kontroverse ausgelöst. Die Gewerkschaft Verdi, die Beschäftigte der Sozialversicherung vertritt, lehnt ihn kategorisch ab und sieht darin Stimmungsmache gegen den Sozialstaat. Differenziertere Urteile kommen aus den Reihen der Krankenkassen.
Keinerlei Verständnis für den Vorstoß von Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger zeigt Julia Böhnke, Bundesfachgruppenleiterin für Sozialversicherungen beim Verdi-Bundesvorstand. "Die Beschäftigten in den Krankenkassen, bei der Bundesagentur für Arbeit oder in der Rentenversicherung arbeiten längst am Limit", sagte sie der F.A.Z. "Wir betrachten mit Sorge, dass die Arbeitgeberverbände versuchen, über Verwaltungskosten Stimmung gegen einen handlungsfähigen Sozialstaat zu betreiben." Gerade in Zeiten tiefgreifender wirtschaftlicher Umbrüche sei es "gefährlich, diesen sozialen Haltpunkt auszudünnen". Außerdem sei etwa die Verwaltungskostenquote der gesetzlichen Krankenkassen seit 2009 gesunken, nicht gestiegen.
Anne-Kathrin Klemm, Vorstandsmitglied des Dachverbands der Betriebskrankenkassen (BKK), hob hervor, dass in der Krankenversicherung "bereits jetzt intensiv daran gearbeitet wird, Effizienzreserven zu heben", etwa durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Leider werde das zuweilen durch hergebrachte gesetzliche Schriftformerfordernisse erschwert. Als "Nebelkerze" wertete Klemm indes "die immer wieder aufkommende Idee eines zentralisierten Verwaltungsapparats, der vermeintlich Ineffizienzen im System per Geisterhand beseitigt". Zugleich greife die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) aber auch "Punkte auf, die die Betriebskrankenkassen seit Langem fordern".
Den Anstoß zu dieser Kontroverse gibt ein BDA-Papier mit Vorschlägen "für eine effiziente Verwaltung der Sozialversicherungsträger". Es stellt zunächst deren Verwaltungskosten dar. Die Ausgaben der Krankenkassen hierfür beliefen sich demnach zuletzt auf knapp elf Milliarden Euro; bei Arbeitslosen- und Rentenversicherung fielen je knapp fünf Milliarden Euro an; rund zwei Milliarden Euro waren es bei Pflegekassen und gesetzlicher Unfallversicherung.
Ein einschneidender Vorschlag betrifft die Selbstverwaltung der Sozialkassen, in deren teils verästelten Gremien Arbeitgeber-und Gewerkschaftsvertreter Steuerungs-und Aufsichtsfunktionen ausüben: Nach Ansicht der BDA sollten die Aufgaben der Sozialpartner in jedem Versicherungszweig auf einen zentralen Verwaltungsrat konzentriert werden. Bei der Bundesagentur für Arbeit ist das schon der Fall. Dagegen besteht etwa die Rentenversicherung aus 17 eigenständigen Trägern mit eigenen Gremienstrukturen.
Noch vielfältiger sind die Strukturen der arbeitgeberfinanzierten Unfallversicherung. Ihr Dachverband hat einen 14-köpfigen Vorstand und eine 68-köpfige Vertreterversammlung; entsprechende Gremien haben zugleich die neun Berufsgenossenschaften und 15 Unfallkassen. Ähnlich ist es in der Krankenversicherung. Die 94 einzelnen Krankenkassen sind aber insofern eigenständiger als Renten- und Unfallversicherungsträger, als sie miteinander konkurrieren. Für Kassenvertreterin Klemm spricht das gegen eine Zentralisierung.
Ein vom BKK-Dachverband unterstützter Punkt ist aber die BDA-Forderung, die behördliche Aufsicht zu vereinheitlichen. Bisher werden Sozialkassen je nach ihrer Historie von Landes- oder Bundesbehörden kontrolliert. Politisch dürfte aber vor allem die Debatte über Strukturen der Selbstverwaltung bald Fahrt aufnehmen. Die Regierung plant schon ein Gesetz zur Modernisierung der Sozialwahl, mit der die Versicherten alle sechs Jahre ihre Vertreter in der Selbstverwaltung wählen.
Gesamtwirtschaftliche Entwicklung |
HDE-Konsumbarometer Verbraucher haben Lust auf Aufschwung Handelsblatt (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. 12 |
Die Stimmung der Konsumenten hat sich deutlich verbessert. Sorgen vor Jobverlust werden meist verdrängt. Bleibt die Frage: wie lange noch?
Deutschlands Verbraucher blicken mit wachsender Zuversicht auf den bevorstehenden Sommer. Das signalisiert das HDE-Konsumbarometer, das für Juni auf 97,35 Punkte stieg – nach 96,10 Punkten im Vormonat. Dies war bereits der fünfte Anstieg in Folge; der Index notiert nun auf dem höchsten Stand seit vergangenem August. Das HDE-Konsumbarometer basiert auf einer repräsentativen Befragung von rund 1600 Haushalten. Es wird monatlich vom Handelsblatt Research Institute für den Handelsverband HDE berechnet.
Die jüngste Stimmungsaufhellung vollzog sich auf breiter Front. Die Sorgen der Verbraucher vor der Teuerung gingen zurück, ihre Anschaffungsneigung stieg, und die Konjunkturerwartungen gingen nach oben. Die Erwartungen, wie sich das eigene Einkommen entwickelt, waren sogar so hoch wie seit 63 Monaten nicht mehr – und notierten damit erstmals wieder auf dem Niveau von vor der Corona-Pandemie.
Die gute Stimmung der Verbraucher strahlt auch auf den Einzelhandel aus. Das Ifo-Geschäftsklima für den Handel stieg spürbar. Sowohl ihre aktuelle Lage als auch ihre Erwartungen bewerteten die Einzelhändler deutlich besser als im Vormonat – wenn auch weiterhin auf niedrigem Niveau. So stieg der saisonbereinigte Index von –25,8 auf –18,6 Punkte. Die negativen Werte signalisieren, dass die Zahl der Pessimisten nach wie vor größer als die der Optimisten ist.
Laut Ifo bewerteten Lebensmittelhändler und Autohäuser ihre aktuelle Geschäftslage besser als der Einzelhandel insgesamt. Die Verkäufer von Bekleidung, Möbeln und Fahrrädern schätzen ihre Geschäftslage dagegen schlechter als der Branchenschnitt ein. Getragen wird der Optimismus offenbar von der Tatsache, dass Deutschland nach einem halben Jahr politischen Stillstands wieder eine handlungsfähige Bundesregierung hat. Diese bemüht sich, Optimismus zu verbreiten. Gleichzeitig deuteten etwas bessere Konjunkturdaten in den vergangenen Wochen darauf hin, dass die Konjunktur womöglich ihren Tiefpunkt überwunden hat.
So revidierte das Statistische Bundesamt seine Schnellschätzung für die Wirtschaftsentwicklung im ersten Quartal von 0,2 Prozent auf nunmehr 0,4 Prozent Wachstum nach oben. Das Ifo-Geschäftsklima stieg bereits fünf Monate in Folge – wenn auch nur in Trippelschritten. Und das Konjunkturbarometer des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verzeichnete im Mai einen Sprung; das DIW sprach von einem "Lebenszeichen der deutschen Wirtschaft".
Harte Daten für den wachsenden Optimismus sind freilich rar. So war die Wirtschaft auch in den vergangenen Jahren stets im ersten Quartal gewachsen – und erlebte dann in der Folgezeit spürbare Rückschläge. Und die etwas besseren Daten aus der Industrie dürften maßgeblich von Vorzieheffekten infolge der im April verkündeten hohen US-Zölle geprägt worden sein.
Der von der Bundesbank berechnete "wöchentliche Aktivitätsindex (WAI)" liegt für die 21. Kalenderwoche vom 19. Mai – 25. Mai bei –0,3. Der Rückgang beschleunigte sich gegenüber der Vorwoche deutlich. Der Index impliziert für die letzten dreizehn Wochen bis zum 25. Mai gegenüber den vorangegangenen dreizehn Wochen einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent.
Zum vielleicht größten Problem hat sich mittlerweile der Arbeitsmarkt entwickelt. Die jahrelange Stagnation, die Rekordzahlen bei Firmenpleiten sowie umfassende Sparprogramme vor allem in der Industrie führten dazu, dass mittlerweile fast 750.000 mehr Personen arbeitslos gemeldet sind als während der Tiefststände im Frühjahr 2019. Allein im Mai stieg die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl um 34.000 Personen an; binnen eines Jahres erhöhte sie sich um 100.000 Personen. "Der Arbeitsmarkt bekommt nicht den Rückenwind, den er für eine Trendwende bräuchte", sagte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles. "Daher rechnen wir für den Sommer auch mit weiter tendenziell steigenden Arbeitslosenzahlen."
Die Sorge vor wachsender Arbeitslosigkeit gilt als Gift für den privaten Konsum. Zum einen schieben von Arbeitslosigkeit bedrohte Verbraucher größere Anschaffungen oftmals zunächst auf und stocken stattdessen ihre Rücklagen auf. Zum anderen wird es für die Gewerkschaften schwieriger, spürbare Lohnerhöhungen durchzusetzen.
Bis der Verlust an realer Kaufkraft ausgeglichen ist, den die hohe Inflation in den Jahren 2022 und 2023 verursacht hat, dürften noch viele Jahre ins Land gehen – 2024 lagen die Reallöhne auf dem Niveau des Jahres 2017. Nicht zu Unrecht haben also viele Konsumenten das Gefühl, sich heute weniger leisten zu können als früher. Die Wahrheit ist: Den Beschäftigten fehlen nach wie vor sieben Jahre der einst gewohnten Wohlstandsgewinne.
Süddeutsche Zeitung, (B) (Tageszeitung) vom 31.05.2025, S. 5 |
Bürokratieabbau ist ein populäres Schlagwort. Aber sobald Probleme auftauchen, rufen bald diejenigen nach dem Staat, die seine Eingriffe sonst verteufeln.
Es ist erstaunlich und spricht nicht gerade für den Realitätssinn von Parteien und Wirtschaftslobby, dass nach wie vor behauptet wird, der Abbau von "Bürokratie" werde wesentlich dazu beitragen, die deutsche Wirtschaft wieder auf hohe Touren zu bringen. Alle bisherigen Versuche, die Produktivität der Unternehmen durch Abschaffung lästiger Auflagen und Pflichten anzukurbeln, haben geendet wie der Tiger als Bettvorleger: vorab markige Ankündigungen, am Ende kleine Entlastungen, alles andere als ein Konjunkturmotor oder gar ein Epochenwechsel.
Wirtschaftsinstitute, Wissenschaftler und Medien verbreiten seit Jahrzehnten Zahlen, die belegen sollen, dass die "alles erstickende Bürokratie" die Unternehmen zwinge, Investitionen in Deutschland zu überdenken und die Abwanderung ins Ausland zu erwägen. Genannt werden zwei-oder dreistellige Milliardenbeträge jährlich. Noch höher seien die Kosten entgangener Wirtschaftsleistung.
Diese Zahlen sind nicht überprüfbar, weil nicht klar ist, was alles als überflüssige Bürokratie angesehen wird, und sie sind letztlich irrelevant. Denn so hoch auch die Gesamtbelastung erscheinen mag – vor allem müsste der Nutzen gegengerechnet werden, der den Unternehmen selbst und der Gesellschaft durch die vermeintlich unnützen Auflagen entsteht. All die Ansätze zur Bürokratieentlastung sind für die Wirtschaft so enttäuschend ausgefallen, weil die Erwartungen viel zu hoch waren.
"Bürokratiekosten" sind in Wahrheit ganz überwiegend normale Kosten jeder wirtschaftlichen Aktivität, der Preis dafür, dass innerhalb einer gut organisierten Gesellschaft produziert und verkauft wird. Die Höhe dieser Kosten muss sich nach dem Grad des Risikos richten, das durch die jeweilige Tätigkeit verursacht oder verstärkt wird. Wer natürliche Ressourcen zur Herstellung handelbarer Güter nutzt, muss sie vor unbegrenzter Ausbeutung bewahren und schädliche Nebenwirkungen vermeiden.
Umweltschutz hat seinen Preis, der auch die staatliche Überwachung umfasst. Wer Produkte anfertigt, die den Verbrauchern Schaden zufügen können, sollte die Vorschriften zur Produktsicherheit schon aus eigenem Interesse einhalten. Wer mit Lebensmitteln handelt, braucht das Vertrauen der Kunden, dass er die Hygieneregeln beachtet. Arbeitsschutz ist unbedingt nötig, und Finanzdienstleister aller Art sollten akzeptieren, dass der Staat eine strenge Aufsicht führt, um ihre Kunden und sie selbst vor Kriminellen zu schützen. Kurz: Mit Rechtsvorschriften und Verwaltungshandeln schränkt der Staat die Wirtschaft nicht nur ein, sondern ermöglicht überhaupt erst Produktion und Austausch in geregelten Bahnen.
Wenn die "Bürokratiekosten" – wie der Bundesverband der Deutschen Industrie schreibt – im Schnitt heute rund sechs Prozent des Umsatzes der Unternehmen ausmachen, scheint das viel zu sein; rechnet man aber die vielfältige Infrastruktur dagegen, die der Staat bereitstellt, kann der Saldo durchaus positiv ausfallen. Der Nutzen lässt sich freilich – anders als die Kosten – nur zum Teil in Zahlen ausdrücken. Wie viel der Rechtsstaat und die rechtlich gebundene Exekutive wirklich wert sind, zeigt aber der Vergleich mit Ländern, in denen man sich nicht darauf verlassen kann, dass es korrekt zugeht: Niemand investiert gern in einem unsicheren Staat. Die deutsche Wirtschaft ist unter dem Regime des Rechts sehr gut gefahren. Deutschland wäre sonst kaum zur drittstärksten Wirtschaftsmacht der Welt geworden.
Der Gesetzgeber will aber oft allzu viel Sicherheit gewährleisten, dass alle Vorschriften eingehalten werden, und erhöht dadurch die Bürokratiekosten unnötig. Vermeidbar wären die Kosten für manche Berichte, Verzeichnisse, Statistiken und besondere Betriebsbeauftragte (etwa für den Whistleblowerschutz). Manche Verfahren könnten schneller werden. Die Pflicht zur Lieferkettenbeobachtung könnte gelockert, der Datenschutz gezielter geregelt werden. Diese Form von Bürokratieabbau ist eine mühsame und undankbare Daueraufgabe, kein Fall für ein politisches Sofortprogramm.
Es kann stets nur darum gehen, diejenigen Vorschriften zu ändern oder aufzuheben, die nicht zwingend erforderlich sind, und die Aufsicht und Kontrolle weniger perfekt zu organisieren. Denn wehe, wenn es versäumt wird, die Bankenaufsicht effektiv genug zu regeln, und eine Großbank ins Schlingern gerät, oder wenn infolge nachlässiger Kontrolle eine Brücke einstürzt oder eine Tierseuche ausbricht! Dann sind die Schäden größer, als der Vermeidungsaufwand gewesen wäre. Dann redet niemand mehr von übermäßiger Regulierung, sondern alle fordern mehr Staatseingriffe.
Der Normalbürger, der von überbordender Bürokratie hört, denkt an die ärgerlichen Verzögerungen, die bei der Bearbeitung seiner Anträge entstehen, und an unsinnige Verwaltungsakte, die auf engstirniger Gesetzesauslegung, Verantwortungsscheu oder Überlastung beruhen. Diese individuelle Bürokratiekritik hat mit den Alarmrufen aus der Wirtschaft kaum etwas gemein; ihr muss auf andere Weise begegnet werden als durch "Entpflichtung", zum Beispiel durch Aufstockung und bessere Ausbildung des Verwaltungspersonals, zum Teil (!) auch durch Digitalisierung. Das hieße, die "Bürokratie" aus-statt abzubauen, könnte aber sowohl die Bürger wie die Wirtschaft entlasten.
Am besten wäre es, die einzelnen Fehlentwicklungen konkret zu korrigieren – und gar nicht mehr von "Bürokratieabbau" zu sprechen.
Hans Peter Bull, Jahrgang 1936, war Professor für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg und von 1978 bis 1983 der erste Bundesbeauftragte für den Datenschutz sowie 1988 bis 1995 SPD-Innenminister von Schleswig-Holstein.
Rahmenbedingungen der Demokratie |
Tagesspiegel (Tageszeitung) vom 02.06.2025, S. B10 |
Die Brandmauer hat Risse
Die Brandmauer in den Brandenburger Kreistagen wackelt. Und das nicht erst seit der Kommunalwahl 2024, als die Rechtsaußen-Partei AfD in 16 der 18 Kreistage und Stadtverordnetenversammlungen (SVV) der kreisfreien Städte stärkste Kraft wurde. Man erinnere an die Cottbuser CDU, die bereits im Oktober 2023 gemeinsam mit der AfD einen Antrag zur Begrenzung der Flüchtlingsaufnahmen durch die SVV brachte.
Seit einem Jahr aber, seit die AfD mehr als ein Viertel der Kreistagsmandate, 248 von insgesamt 942 Sitzen, innehat und in manchen Kommunalparlamenten ihre Präsenz verdoppelte, wird die Schlagzahl höher. Sei es, dass die AfD als Mehrheitsbeschaffer dient oder ein AfD-Antrag mehrheitlich beschlossen wird.
Einen Kreistagsvorsitz errang die AfD in keinem der elf Kreistage, in denen sie einen Kandidaten aufgestellt hatte. "Bei den konstituierenden Sitzungen hat sie gehalten, aber es gibt ordentlich Druck auf der Brandmauer", sagt Christoph Schulze, Rechtsextremismusforscher am Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam. Er definiert den Begriff Brandmauer als "das Bemühen der demokratischen Akteure, nicht auf die Unterstützung der AfD angewiesen zu sein." In den konstituierenden Sitzungen beobachtete er "die prinzipielle Bereitschaft von Nicht-AfD-Mitgliedern, für AfD-Kandidaten zu stimmen". Dies deutet darauf hin, dass sich "Normalisierungstendenzen verstärken könnten", sagt Schulze.
In einem Gastbeitrag für die rechtsextreme Zeitschrift "Sezession" schrieben AfD-Landeschef René Springer und Landtagsfraktionschef Hans-Christoph Berndt 2022: "In den Kommunen sind die Mauern für die AfD am niedrigsten. (...) Hier geht es um Sachfragen, hier hat die Politik das Gesicht des Nachbarn. Hier ist als Fundamentalopposition nichts, aber als Volkspartei viel zu gewinnen."
CDU, FDP und Wählergruppen kooperieren
Bereits in der Wahlperiode 2019 bis 2024 fanden in Brandenburger Kreisen und kreisfreien Städten 99 AfD-Anträge mehr Stimmen als AfD-Abgeordnete in der jeweiligen Sitzung anwesend waren, listet eine Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin zur Sozialforschung (WZB) auf. Dabei handelte es sich um 91 inhaltliche und um acht personelle Kooperationen. Bei 41 AfD-Anträgen kamen mindestens zehn Prozent der Stimmen von Nicht-AfD-Mitgliedern. Am häufigsten fanden AfD-Anträge in Cottbus (85 Prozent von allen AfD-Anträgen), Oder-Spree (52,8 Prozent) und Brandenburg an der Havel (52,4 Prozent) Zuspruch aus dem Nicht-AfD-Lager. "Parteipolitisch sind es gerade kleinere Parteien, die besonders häufig mit der AfD kooperieren, gefolgt von FDP und CDU", schreiben die Wissenschaftler Wolfgang Schroeder, Daniel Ziblatt und Florian Bochert. Auf der kommunalen Ebene seien pragmatisches Verhalten, Kooperationsfähigkeit und damit auch der Konsensdruck sehr ausgeprägt.
In Brandenburg sieht Politikwissenschaftler Schulze am ehesten bei CDU und FDP die Bereitschaft zur Kooperation, sowie bei nicht parteigebundenen Abgeordneten. In den Kreistagen sitzt eine Vielzahl an lokalen und regionalen Listenvereinigungen und Wählergemeinschaften, frei von Disziplin zu bundesweit agierenden Parteien. Einige haben sich einer CDU-Fraktion angeschlossen.
CDU-Chef und Kanzler Friedrich Merz beschränkte 2023 ein AfD-Kooperationsverbot lediglich auf "gesetzgebende Körperschaften", also auf die europäische, Bundes- und Landesebene. Für bundesweite Proteste sorgte der Bundestagsbeschluss von Merz’ Asylprogramm mit AfD-Stimmen vor der Bundestagswahl.
Im Kreistag in der Uckermark gebe es eine "eingerissene Brandmauer", sagt Linke-Fraktionsvorsitzender Axel Krumrey. Nicht nur bei der Rettung der Krankenhäuser hätten Abgeordnete von CDU, Freien Wählern und einem BSW-nahen Bürgerbündnis mit der AfD gestimmt, auch beim AfD-Antrag zur Liveübertragung der Kreistagssitzung im Dezember (dieser fand keine Mehrheit) oder bei Fragen zu Asylunterkünften. "In Einzelfällen haben CDU-Anträge durch die AfD die Mehrheit gefunden", sagt Krumrey.
Seiner Beobachtung nach gebe es keine offenen Absprachen, es seien eher "beidseitige Mitnahmeeffekte". Krumrey sagt: "In der letzten Legislaturperiode wurde aus unserer Sicht der Grundstein gelegt."
Im Kreistag in Potsdam-Mittelmark kam es nicht nur zu einem AfD-Stellvertreter und dem Anti-Gender-Beschluss. Es scheint, als herrsche ein gutes Verhältnis zwischen CDU und AfD, berichtet Myriam Krawczyk, Fraktionsvorsitzende der Grünen. Bei einem Antrag für ein Bekenntnis des Kreises zum Demokratiebündnis "Brandenburg zeigt Haltung!" inklusive konkreter Maßnahmen stimmten im Mai AfD und CDU dagegen. Es sei zur "Kampfabstimmung rechts gegen links" gekommen, so Krawczyk. Argumente der Brandmauer würden im Kreistag beiseite geschoben und auf "ein gutes Miteinander" verwiesen.
Lars Hünich, AfD-Fraktionsvorsitzender, bestätigt: "Man redet auch mal mit der CDU oder den Freien Wählern inhaltlich, weil man mehr Schnittpunkte hat." Er sei "sehr zufrieden" mit dem Umgang mit der AfD im Kreistag in Potsdam-Mittelmark, auch wenn manche die Brandmauer aufrechterhalten wollen. Er sagt: "Die Brandmauer schadet den anderen Parteien mehr als uns." So müssten sie sich nicht politisch beweisen. Zugleich sagt Hünich: "Wir wollen die Verwaltung nicht behindern."
Im Kreistag in Barnim werde die Zusammenarbeit von AfD und CDU nicht offiziell benannt, aber "inoffiziell ist die Zusammenarbeit da", sagt Lutz Kupitz, Linke-Fraktionsvorsitzender. Der AfD-Kandidat wurde "mit Stimmen der CDU" Kreistags-Stellvertreter, der Linke-Kandidat unterlag. Beim CDU-Antrag zur Arbeitspflicht für Asylbewerber wirkte die AfD als "Mehrheitsbeschaffer".
Auch in den Ausschüssen gibt es Beispiele, "die offenbar eine Zusammenarbeit belegen", so Kupitz: CDU und AfD kritisierten im Kulturausschuss im Februar die Kulturförderung für die Queeren Wochen des Vereins CSD Eberswalde, das Projekt wurde mit vier zu drei Stimmen von der Förderliste gestrichen. Im Rechnungsprüfungsausschuss am Mai forderte die CDU mit einem Antrag die Überprüfung einer Flüchtlingsunterbringung. Die AfD hatte "nach unseren Gesprächen mit der CDU" ihren Änderungsantrag diesbezüglich zurückgezogen, heißt es in einer E-Mail der AfD-Fraktion an die Kreisverwaltung, die den Kreistagsmitgliedern vorliegt.
Im Kreistag in Oder-Spree sei die Brandmauer "nicht immer, aber Gott sei Dank existent", berichtet Mathias Papendieck, SPD-Fraktionsvorsitzender. Ihn ärgert der beschlossene "Schaufenster-Antrag" der AfD zur Verpflichtung von Asylbewerbern zur Arbeitsaufnahme, dem die Fraktion FDP/Bauern-Jäger-Angler/Bürgervereinigung Fürstenberg zur Mehrheit verhalf, auch weil sich BVB/Freie Wähler enthielten. "Es ist ein Antrag, der bereits in Bearbeitung ist, und erneut beschlossen wurde", so Papendieck. Den vorherigen CDU-Antrag im Mai 2024 hatte die SPD mitgetragen. Auch bei Personalfragen wie der jüngsten Beigeordnetenwahl und bei Geschäftsordnungsanträgen würde die Brandmauer auf die Probe gestellt, sagt Papendieck.
In den Kreistagen in Prignitz, Ostprignitz-Ruppin, Oberhavel, Havelland und Oberspreewald-Lausitz (OSL) gab es laut der befragten Kreistagsmitglieder bisher weder Anträge, die durch die AfD zur Mehrheit fanden, noch beschlossene AfD-Anträge. "Es ist nur eine Frage der Zeit", sagt Mario Dannenberg, Linke-Fraktionsvorsitzender in OSL.
CDU betont Unvereinbarkeit, AfD nutzt Präsenz
Der CDU-Generalsekretär Gordon Hoffmann betont: "Für die CDU gilt auf allen Ebenen der Unvereinbarkeitsbeschluss, dass es keine Koalition oder koalitionsähnliche Zusammenarbeit mit der AfD geben wird. Wer keine klare Abgrenzung zum Extremismus besitzt, ist für uns kein Partner. Der Begriff der Brandmauer hat nie zu unserem Sprachgebrauch gehört."
In Cottbus sagte der CDU-Fraktionschef Jörg Schnapke bei der konstituierenden Sitzung im Juli gegenüber der Lausitzer Rundschau: "Im Lokalen gibt es die Brandmauer nicht."
AfD-Landeschef René Springer sagt: "Unsere wachsende Präsenz zwingt zur Auseinandersetzung: Manchmal sind wir das entscheidende Zünglein an der Waage." Er berichtet von einer systematischen Ausgrenzung in den kommunalen Vertretungen und zugleich "bekommen unsere Anträge gelegentlich Mehrheiten oder werden zumindest in Ausschüsse überwiesen, und auch Geschäftsordnungsanträge finden hier und da Zustimmung." Springer sagt: "Wo wir stärkste Kraft sind, lassen sich zentrale Entscheidungen ohne uns kaum mehr treffen." Gespräche mit anderen Fraktionen fänden meist informell statt, teils konstruktiv.
Brandenburgs neuer Innenminister René Wilke (parteilos, früher Linke) nannte die Brandmauer im Kommunalen, als er noch Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) war, "ein sehr theoretisches Konstrukt". Er sagte: "Eine Brandmauer dahingehend, jede Vorlage, bei der die AfD mit gestimmt hat, abzulehnen, das haut nicht hin." Bei 90 Prozent der Vorlagen sehe man erst bei der Abstimmung, wie es ausgehe.
Andrea Johlige, ehemals für die Linken im Landtag und im Kreistag Havelland, mahnt zu unterscheiden: "Haben sie vorher gewusst, dass die AfD mitstimmen wird und haben sie darauf gesetzt? Gab es Absprachen? Oder war es eine Zufallsmehrheit?" Man könne nicht verhindern, dass die AfD zustimmt.
Johannes Wagner, Geschäftsführer des Landkreistags, verweist darauf, dass die Verwaltungsarbeit nicht blockiert werden dürfe. Ab und an müsse man daher die AfD als Mehrheitsgeber in Kauf nehmen. Er appelliert aber an die demokratischen Parteien: "Klar ist: Man darf und sollte sich nicht von der AfD abhängig machen." Zudem sollte man deutlich die Ideologie der AfD ablehnen. Zugleich sollten die demokratischen Akteure nichts unversucht lassen, um Moderate zurückzuholen. Wagner sagt: "Die AfD ist politisch wählbar. Man darf nicht an ihnen vorbei agieren."
Das sagt auch Ronald Weber, Linke-Fraktionsvorsitzender in der Prignitz: "Die AfD auszugrenzen, ist nicht sinnvoll. Wir versuchen, objektiv mit ihnen umzugehen." Eine Zusammenarbeit gebe es nicht, aber man toleriere sie. Zumindest die Moderaten. Ein Ex-Mitglied der Jungen Alternative fand keine Mehrheit als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses.
Einig sind sich viele der Befragten, dass die Brandmauer eine Ebene darunter, in den Gemeinden und Städten, noch mehr wackle. Aus mehreren Stadtverordnetenversammlungen berichten Kommunalpolitiker von gemeinsamen Abstimmungen von AfD und Freien Wählern oder CDU.
In der vorherigen Legislaturperiode führten manche Gemeindebeschlüsse zu Aufsehen: In Forst (Spree-Neiße) hatten 2020 Linke mit der AfD gestimmt, in der Gemeinde Bestensee (Dahme-Spreewald) brachten CDU, AfD und die Unabhängigen Bürger (UBBP) 2020 einen gemeinsamen Antrag ein. Im April 2024 unterzeichneten demokratische Parteien in der Uckermark mit Rechtsextremen einen Brief zur friedlichen Lösung des Ukraine-Kriegs. Nun wird auch in den Gemeinden öfter mit der AfD gestimmt.
Die Auflistung der Kreistagsbeschlüsse erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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Seit einem Jahr ist die AfD in 16 von 18 Brandenburger Kreisen stärkste Kraft und verhilft so manchem CDU-Antrag zur Mehrheit.
Für Brandenburgs Innenminister René Wilke ist die Brandmauer "ein sehr theoretisches Konstrukt".
Infobox
Beschlüsse mit der AfD
Dezember 2024, Kreistag Teltow-Fläming: Der Antrag auf Genderverbot im Schriftverkehr der Kreisverwaltung von CDU und Bauernverband findet mit Zustimmung der AfD eine Mehrheit.
Dezember 2024, Kreistag Potsdam-Mittelmark: Der Antrag von CDU und FDP/IGH zur Verwendung des generischen Maskulinums in der Hauptsatzung des Landkreises findet mit AfD-Stimmen die Mehrheit.
Dezember 2024, Kreistag Oder-Spree: Der AfD-Antrag zur Verpflichtung von Asylbewerbern zur Arbeitsaufnahme findet mit 21 Stimmen eine Mehrheit. Die Fraktion FDP/Bauern-Jäger-Angler/Bürgervereinigung Fürstenberg stimmt mit. Im Mai 2024 wurde bereits ein ähnlich lautender CDU-Antrag beschlossen, der sich bereits in Umsetzung befindet.
Juli 2024, Kreistag Potsdam-Mittelmark: Marlon Deter (AfD) wird im zweiten Wahlgang mit 30 Stimmen zum ersten Stellvertreter der Kreistagsvorsitzenden gewählt, der SPD-Kandidat Dietmar Otto unterliegt. Die AfD hat im Kreistag elf Sitze.
Juni/ Juli 2024, Kreistage Dahme-Spreewald, Oder-Spree, Uckermark, Prignitz: In vier Kreistagen wird der AfD-Kandidat zum zweiten Stellvertreter der Kreistagsvorsitzenden gewählt. Bei den Abstimmungen um diesen Posten errang die AfD insgesamt 305 Stimmen bei 181 AfD-Abgeordneten in den 13 Parlamenten, wo sie für diesen Posten antrat.
Infobox
Beschlüsse mit der AfD
März 2025, Kreistag Barnim: Die CDU beschließt mit Stimmen der AfD eine Arbeitspflicht für Asylbewerber und Bürgergeldempfänger ab 2026. Die AfD hatte zuvor ihren eigenen Antrag dazu zurückgezogen.
Januar 2025, Landkreis Uckermark: In der von der AfD beantragten Sondersitzung findet der AfD-Antrag zur Sicherstellung der Notfallversorgung der von Schließung bedrohten GLG-Krankenhausstandorte Prenzlau und Angermünde eine Mehrheit durch Stimmen von CDU, FDP, Freie Wähler sowie zwei Wählergruppen. Nur SPD, Linke und Grüne stimmen dagegen.