Gute Arbeit

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.05.2025, S. 33 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, Frankfurt am Main)

        
Rubrik im PS:Gute Arbeit
Autor:Julia Fietz
Auflage:179.017
Reichweite:798.080
Quellrubrik:Beruf und Chance

Vollzeit schwerbehindert

Diabetes, Krebs, psychische Krankheiten: Jeder zehnte Deutsche hat einen Schwerbehindertenausweis. Anzusehen ist er den wenigsten. Was er im Berufsleben bedeutet.

Eine giftgrüne Karte, darauf in schwarzen Buchstaben ein Wort wie ein Vorschlaghammer: schwerbehindert. Der Gesunde denkt nun an Rollstuhlfahrer, an Menschen mit Downsyndrom oder einen Blinden mit Stock. Er denkt nicht an die gleichaltrige Kollegin aus dem Nachbarbüro oder den Hausmeister. Auch die Abteilungsleiterin wird ihm nicht einfallen. Hinter dem wuchtigen Begriff Schwerbehinderung stecken unzählige Krankheitsbilder, und viele bleiben dem ahnungslosen Auge verborgen. Ebenso, was das in Plastikform manifestierte Etikett mit sich bringt, psychologisch wie arbeitsrechtlich.

Rund 7,9 Millionen Deutsche besaßen dem Statistischen Bundesamt zufolge Ende Dezember 2023 einen Schwerbehindertenausweis. Gemessen an der Gesamtbevölkerung, wird also jedem Zehnten ein Behinderungsgrad von mindestens 50 zugesprochen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, dass Betroffene fünf Jahre nach dem Auftreten ihrer Schwerbehinderung eine um 16 Prozent niedrigere Wahrscheinlichkeit haben, erwerbstätig zu sein. Auch bekommen sie nach fünf Jahren im Schnitt etwa sieben Prozent weniger Lohn.

Diese Zahlen müssen jedoch nicht für alle gelten. Schwerbehinderungen "behindern" das Leben individuell, für manche mehr, für manche weniger. Manchmal weiß selbst das enge Umfeld über Jahre hinweg nicht Bescheid, manchmal kann ein Mensch von einem Tag auf den anderen kaum noch arbeiten. Die größte Gruppe machen diejenigen im Alter von 65 und mehr aus, allerdings steigen die Zahlen bereits ab 45 fast um das Doppelte an. Ob Diabetes, Krebs, Übergewicht oder psychische Krankheiten, das Risiko nimmt mit den Jahren signifikant zu. Rechnet man die Zahlen derjenigen im erwerbsfähigen Alter von 18 bis 65 zusammen, ergibt das rund drei Millionen Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt mit einer Schwerbehinderung. Sie sind nicht verpflichtet, diese offenzulegen, weder vor dem Chef noch den Kollegen. Weiß der Arbeitgeber allerdings nicht von der Schwerbehinderung, können die Rechtsansprüche, die damit einhergehen, auch nicht geltend gemacht werden.

Silke Volga-Liehn ist schwerbehindert. Das Hörvermögen der 50-Jährigen beträgt noch 40 Prozent auf beiden Ohren. Die Schwerhörigkeit zieht sich durch die Familiengeschichte, der Opa, die Mutter, die Schwester, die eigene Tochter. Für ein Treffen schlägt Volga-Liehn ein Eiscafé vor, darin klappern, lachen und lärmen Familien, dass sich schon normal Hörende konzentrieren müssen, um etwas zu verstehen. Volga-Liehn stört sich nicht daran, sie achtet auf die Lippenbewegungen des Gegenübers. Wie alle in ihrer Familie hat sie einwandfrei sprechen gelernt. Ihre zierlichen Hörgeräte fallen kaum auf. Als behindert hat sie sich nie empfunden, mit dem Schwerbehindertenausweis eher gefremdelt. Ihr Vater, normal hörend, habe seinen Kindern immer eingeimpft, dass sie ganz normal seien. "Er hat uns das richtige Selbstbewusstsein mitgegeben." Die Schwerhörigkeit habe die Mädchen nicht einschränken sollen.

Umso schwerer fiel es Volga-Liehn, sich einzugestehen, nicht mehr alles so hinzukriegen wie andere. Die Corona-Zeit war hart. Mit den Masken und Abstandsgeboten schrumpfte der Radius für normale Gespräche in sich zusammen. Dabei redet sie hauptberuflich und gern. Ihr halbes Berufsleben hat sie bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Frankfurt verbracht. Erst in der Poststelle, heute im internen Service-Center für Kollegen mit Fragen aller Art, vom Shuttleservice bis zur Raumbuchung.

Das Hörvermögen der 50-Jährigen nimmt kontinuierlich ab, seit zwei Jahren trägt sie zudem eine Brille. Wenn jemand am Schalter steht und gleichzeitig das Hotline-Telefon klingelt, überträgt es den Klingelton auf die Hörgeräte, und Volga-Liehn versteht kein Wort mehr. Dann hat sie womöglich die Brille vergessen, muss zurück an ihren Platz, und schon klingelt das Telefon wieder. "Irgendwann habe ich gesagt, ich kann das nicht mehr, es macht mich richtig fertig, und ich muss mich ständig jedem erklären."

Das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs regelt die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft. Der dicke Wälzer schlüsselt insbesondere das Berufsleben der Betroffenen auf, legt Vorschriften für den Arbeitgeber und Rechte des Arbeitnehmers fest. Es bestimmt, dass jeder Betrieb mit mindestens fünf unbefristet angestellten schwerbehinderten und gleichgestellten Mitarbeitern die Wahl einer Vertrauensperson zu gewährleisten hat. Diese muss nicht unbedingt schwerbehindert sein, nimmt aber eine Schlüsselrolle ein, wenn es um Beratung, Vermittlung und Hilfe bei Problemen im Arbeitsumfeld geht. Sie hat ein Mitspracherecht im Betriebsrat, nimmt auf Wunsch an Personalgesprächen teil und ist zum Stillschweigen verpflichtet. Der Gesetzgeber hat ihre Amtszeit mit der Möglichkeit zur Wiederwahl auf vier Jahre festgelegt. Die Schwerbehinderten wählen ihren Vertreter während einer eigens dafür einberufenen Versammlung selbst.

Siegmund Schillumeit redet nicht lange um den heißen Brei herum. Der Mann mit dem Weihnachtsmannbart hat in den vergangenen sieben Jahren viele Stunden einfach nur zugehört. Und noch mehr mit Konflikten verbracht, sei es mit Ämteranträgen, dem Arbeitgeber oder Kollegen. Sein Job liegt irgendwo zwischen Seelsorger und Gesetzesexperte. Als er 2018 zum Schwerbehindertenvertreter des Caritasverbands im Kreis Warendorf gewählt wurde, arbeitete Schillumeit noch als Gruppenleiter in einer Behindertenwerkstatt. Heute betreut er rund 90 Mitarbeiter. Nicht alle haben ihre Einschränkungen dem Umfeld offengelegt, manche aus

Scham, manche aus Furcht vor Seitenhieben und Diskriminierung. Eine Entscheidung, die ihr Vertreter nachvollziehen kann: "Alles, was mit Anfallsleiden zu tun hat, zum Beispiel Diabetes oder Epilepsie, empfehle ich, den Kollegen mitzuteilen. Wenn dann jemand aus den Latschen kippt, wissen sie, was sie zu tun haben."

Bei anderen Behinderungen mahne er mittlerweile zur Vorsicht. Nicht jeder könne damit umgehen, insbesondere in körperlich wie psychisch fordernden Berufen, in denen Dienstpläne chronisch unterbesetzt und Fachkräftemangel ein Dauerproblem sind. Eine Situation, die Schillumeit schon oft erlebt hat. "Ich habe immer gesagt, wir sind eine Einrichtung der Behindertenhilfe. Hier würde jeder Mitarbeiter für einen Menschen mit Behinderung alles tun – solange es kein Kollege ist." Diese harsche Aussage erklärt er so: Die Bereitschaft der Mitarbeiter, für die Klienten bis ans Äußerste zu gehen, ist groß und wird regelmäßig strapaziert, das liege in den Berufen in der Natur der Sache. Wenn dann jemand essenzielle Arbeiten nicht mehr übernehmen kann, wächst die sowieso schon hohe Belastung. Sarkastische Sprüche à la "War klar, dass der Schwerbehinderte wieder krank war" können im Caritasverband Abmahnungen zur Folge haben. Auf der anderen Seite gibt es beispielsweise Möglichkeiten zur finanziellen Entschädigung der Kollegen, wenn diese Extraaufgaben übernehmen müssen.

Ein Schwerbehindertenvertreter wie Schillumeit versucht in solchen Situationen zu vermitteln. Er macht Vorschläge, welche Maßnahmen den Arbeitsalltag des Mitarbeiters erleichtern könnten, und zieht externe Partner wie die Integrationsämter hinzu. Im Zweifel sucht er gemeinsam mit dem Betroffenen nach einer anderen Einsatzmöglichkeit im Betrieb. Schillumeit betreut aktuell einen Pfleger, der den Beruf wegen seiner Einschränkungen nicht mehr ausüben kann. In Fällen wie diesem gebe es den Moment, in dem die Schwerbehinderung gegenüber Arbeitgeber und Kollegen kommuniziert werden müsse: "Da sollte man mit dem Team drüber sprechen und offen damit umgehen. Er kann nichts dafür, deswegen trifft ihn auch keine Schuld."

Mit seinem Arbeitgeber offen über die eigene Schwerbehinderung zu reden, ermöglicht, Rechte wie fünf zusätzliche Urlaubstage, einen Schutz vor Kündigung auf Basis der Schwerbehinderung oder einen früheren Renteneintritt in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig kann Offenheit für Verständnis sorgen und den Druck aus Konflikten nehmen. Auf der anderen Seite steht die Angst vor Diskriminierung und dem Stigma, als nicht mehr vollwertig leistungsfähig wahrgenommen zu werden.

Mathilde Niehaus ist Inhaberin des Lehrstuhls für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln. Zusammen mit ihrer Kollegin Jana Bauer entwickelte sie die Projekte "Sag ich’s? Chronisch krank im Job", ein webbasierter Selbsttest, und "Vorbildlich in Führung gehen! Mit Role Models Inklusion in Arbeit stärken". Letzteres geht von der Annahme einer Vorbildfunktion von Führungskräften mit Behinderungen aus. Sie könnten Entwicklungen zu einer inklusiveren Unternehmenskultur anstoßen. Bauer sieht eine Chance darin, sich für Transparenz zu entscheiden: "Viele denken, sie wären allein. Wenn sich einer traut, sich verletzlich zu machen, können andere andocken." Bis zu einer Gesellschaft, in der Betroffene ohne Furcht vor Konsequenzen von ihrer Behinderung erzählen können, ist es noch ein weiter Weg.

Im Arbeitsleben wären zusätzliche Schulungen für Führungskräfte und ausgebaute betriebliche Gesundheitsmanagements mögliche Maßnahmen. Fest steht: Eine Schwerbehinderung konfrontiert den Gesunden mit einer "elementaren Verunsicherung", nämlich mit der potentiell fragilen eigenen Gesundheit, sagt Niehaus.

Silke Volga-Liehn ist mit ihren Einschränkungen immer offen umgegangen. Als sie den Entschluss gefasst hatte, dass sich etwas ändern muss, ging die 50-Jährige zu ihren Chefs und zeigte ihnen die Ergebnisse des Hörakustikers. Zwar war die Behinderung bekannt, trotzdem wurden die Augen angesichts des Ausmaßes groß. Die Schwerbehindertenvertretung und das Integrationsamt griffen Volga-Liehn unter die Arme. Sie sitzt nun im Einzelbüro und kümmert sich hauptsächlich um Onlinetickets. Beim Umzug ins Neubaugebäude ist der Vertreter des Integrationsamts mit an Bord. Er engagiert einen Tontechniker, der prüft, wie der Schall im Raum verbessert werden könnte. Und manchmal sind kleine Schritte schon große Verbesserungen: Die Hotline, deren Klingeln Volga-Liehn einschränkte, wurde lautlos gestellt und durch eine blinkende Lampe ersetzt.