Rubrik im PS: | Gute Arbeit |
Autor: | HB |
Auflage: | 101.905 |
Reichweite: | 237.439 |
Ressort: | Arbeiten |
Quellrubrik: | Arbeiten |
Care-Arbeit
"Frauen verlieren um 60 Prozent im Einkommen, sobald sie Kinder haben"
Frau Holten, um den Fachkräftemangel zu verringern, sollen Frauen mehr arbeiten, heißt es im Koalitionsvertrag. Teilzeitkräfte, die ihre Arbeitszeit erhöhen, sollen eine Prämie bekommen. Wie finden Sie das? Ich bin Feministin und finde es erst mal gut, wenn Frauen mehr Geld verdienen und dadurch finanziell unabhängig sind. Das schützt sie beispielsweise davor, in gewaltvollen Ehen wegen Geldmangels gefangen zu sein.
Viele Frauen arbeiten in Deutschland aber ja nicht, weil sie nicht arbeiten wollen. Sie können nicht. Deutschland fehlen Institutionen, die es vielen Frauen ermöglichen, Vollzeit zu arbeiten. Dazu kommen die in Deutschland starken kulturellen Erwartungen, wie viel Zeit man mit Pflegearbeit verbringen sollte. Es geht um die Frage, was eine gute Mutter ausmacht.
Auch für diesen kulturellen Wandel bräuchte es ein besseres Betreuungssystem. Genau. Wenn Kanzler Friedrich Merz Arbeitsstatistiken für Frauen will, wie wir sie in Dänemark haben, muss er in Pflegesysteme investieren. Als Dänemark anfing, in Pflege zu investieren, passierten zwei Dinge: Frauen hatten die Möglichkeit zu arbeiten, weil es ein Pflegesystem für Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung gab. Und es wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, nämlich in Pflegesektoren oder im öffentlichen Dienst.
Dumm nur, dass diese Sektoren nicht besonders gut bezahlt sind. Sollte man Frauen dazu raten, sich andere Branchen zu suchen, in denen sie mehr verdienen? Das war lange die feministische Strategie. Damit haben wir gezeigt, dass Frauen genauso gut sein können wie Männer. Aber wir haben unterschätzt, wie wichtig und wertvoll die Arbeit in der Pflege ist. Wir sollten nicht versuchen, das Leben von Frauen dem von Männern anzugleichen, sondern umgekehrt. Wir können keine Gesellschaft haben, in der sich niemand um die Pflege kümmern will, weil die Umstände so schlecht sind.
Aber was haben Männer davon, mehr wie Frauen zu arbeiten? Es stimmt: Wenn wir wollen, dass Frauen mehr Erwerbsarbeit leisten, dann müssen die Männer mehr zu Hause sein. Was mich aber wirklich gefreut hat: Nach der Lektüre meines Buches haben mir Männer gesagt, dass es ihnen die Augen geöffnet hat. Sie haben gemerkt, dass sie durch die viele Erwerbsarbeit auch viel verpasst haben, was das Leben lebenswert macht. Dazu kommt ein positiver Nebeneffekt.
Der wäre? Wenn Männer sich mehr um Kinder kümmern, sich mehr im Haushalt engagieren, kann das auch die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz verringern. Einfach, weil das Leben von Männern und Frauen sich dann angleichen würde.
Es gibt bereits eine Menge Versuche, Frauen das Arbeiten zu ermöglichen. Homeoffice zum Beispiel. Warum hat eigentlich keine Maßnahme bisher so richtig was gebracht? Na ja, es gibt Fortschritte, aber sie sind oft auf privilegierte Sektoren beschränkt. Flexibles Arbeiten funktioniert in gut bezahlten Sektoren mit sehr gut ausgebildeten Menschen. Aber ein Taxifahrer oder eine Krankenschwester hat diese Möglichkeit nicht. Wir sollten Pflege nicht nur als Last – meist für Frauen – sehen. Wir könnten Pflege auch als Recht sehen, das Männern aktuell oft verwehrt wird.
Wenn wir das Recht auf Pflege umsetzen, müssen wir Steuern erhöhen... Wenn Männer sich mehr kümmern, könnten Frauen mehr arbeiten und mehr Steuern zahlen.
Warum ist Care-Arbeit eigentlich so schlecht bezahlt? Erstens wegen Macht. Frauen sind in der Pflege überrepräsentiert und haben wenig politische Macht. Man konnte diese Dienstleistungen billig bekommen. Zweitens ist Pflegearbeit schwer zu quantifizieren und in ein Produkt zu verwandeln. Pflege ist eine langfristige Investition. Man weiß nicht, was Pflege konkret bewirkt. Das macht sie schwer messbar für Ökonomen.
Wozu führt das? Momentan nutzen wir Preise, um Wert zu bestimmen. In den Bereichen Pflege und Haushalt sind jedoch die Preise ein sehr schlechtes Maß. Den tatsächlichen Wert der Leistungen stellen sie einfach nicht dar. So unterschätzen wir den kurz- und langfristigen Wert der Beiträge von Frauen zur Lebensqualität und zur Wirtschaft. Dabei wünschen sich viele Menschen mehr Betreuungsangebote, mehr Gesundheit und mehr Pflege. Weil wir aber die Care-Arbeit und die Beschäftigten unterbewerten, bekommen wir weniger von diesen Leistungen.
Wie können wir Pflegearbeit mehr Wert geben? Indem wir anerkennen, dass Preise nie Wert gemessen haben. Wert ist eine politische Entscheidung. Wenn Sie eine Gesellschaft mit mehr Krankenschwestern wollen, dann sind Krankenschwestern sehr wertvoll.
Na gut, man könnte ja für Pflege mehr bezahlen und sie stärker im Bruttoinlandsprodukt (BIP) berücksichtigen. Das funktioniert nicht. Selbst wenn wir einen Preis auf unbezahlte Pflege setzen, was würde uns das sagen? Würde es uns etwas über die Bedeutung der Zeit mit einem Kind sagen? Über die positiven Effekte guter Pflegearbeit in 10, 20, 50 Jahren? Diese Zahl würde uns das nie sagen.
Aber die bessere Bezahlung würde der Pflegearbeit vielleicht einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft geben und Frauen und Männer ein wenig gleicher stellen? Vielleicht, wenn wir beispielsweise Mütter für die Kindererziehung bezahlen würden. Es würde das Problem kurzfristig lösen und es sichtbar machen. Aber wir sollten uns eher fragen, warum so etwas Wichtiges unsichtbar, fast unwirklich, wird, sobald es keinen Preis hat. Warum brauchen wir Preise, um zu sagen, dass etwas existiert und wichtig ist?
Was wären denn Ihre Indikatoren? Leben alle Menschen gleich lange, egal, wie reich sie sind? Kann jeder lesen und schreiben? Und hat jeder Zugang zu Ruhe, Entspannung? Das kann eine Idee eines guten Lebens sein. Lange Zeit dachten wir, dass Wirtschaftswachstum, Produktivität und Effizienz an sich ein gutes Leben schaffen würden. Aber Effizienz oder Produktivität allein können den Menschen keine Freude und Gesundheit bringen, dazu braucht man die Politik.
Klingt alles nett, aber wenn wir Ihre Idee weiterdenken, fehlt es zumindest kurzfristig an Anreizen. Anreize für wen? Menschen leisten bereits Pflegearbeit ohne wirtschaftlichen Anreiz. Frauen verlieren in Deutschland um 60 Prozent im Einkommen, sobald sie Kinder haben. Wenn jeder Geld bräuchte, um etwas zu tun, würden keine Frauen Kinder bekommen. Wir sollten Pflegearbeit als kollektives Recht betrachten, nicht als individuelle Priorität. Statt zu sagen, ich habe einen individuellen Anreiz zur Pflegearbeit, könnten wir die Arbeitszeit für alle senken, um Pflegearbeit zu erleichtern.
Aber in einem globalisierten System sind wir im Wettbewerb mit anderen Ländern. Europa verliert doch diesen Wettbewerb gerade mit China. Das Land investiert massiv in Universitäten, Pflege und Infrastruktur. Wir haben lange gedacht, dass öffentliche Investitionen dem Wettbewerb schaden, aber das stimmt nicht. Deutschland ist in einer Industrie- und Produktivitätskrise, aber auch in einer sozialen und kollektiven Pflegekrise. Das zeigt sich in der sozialen Zersplitterung, dem Vertrauensverlust in die Demokratie und der politischen Polarisierung. (HB)
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Meist sind es Frauen, die mit dem ersten Kind bei der Karriere zurückstecken. Trotzdem sollten sie Männern nicht beruflich nacheifern, so Holten.
Infobox
Zur Person
Emma Holten wurde 1991 geboren und ist Mitglied des Sachverständigenforums des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen und des Beratungsausschusses für Frauenrechte von Human Rights Watch. Sie beschäftigt sich in diesen Funktionen vor allem mit Fragen der feministischen Ökonomie. Seit 2023 berät sie die dänische Regierung im Untersuchungsausschuss zu Machtverhältnissen in Dänemark. Sie trat außerdem als Rednerin bei der Uno auf. Emma Holten lebt in Kopenhagen.
Holtens erstes Buch, "Unter Wert – Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt", erschien 2024 erstmals in Dänemark. Ihr Buch wurde mehrfach ausgezeichnet und in ihrem Heimatland zum Bestseller.