Rubrik im PS: | Rahmenbedingungen der Demokratie |
Autor: | Katharina Henke |
Auflage: | 101.905 |
Reichweite: | 237.439 |
Ressort: | Brandenburg |
Quellrubrik: | Brandenburg |
AfD als Mehrheitsbeschaffer
Die Brandmauer hat Risse
Die Brandmauer in den Brandenburger Kreistagen wackelt. Und das nicht erst seit der Kommunalwahl 2024, als die Rechtsaußen-Partei AfD in 16 der 18 Kreistage und Stadtverordnetenversammlungen (SVV) der kreisfreien Städte stärkste Kraft wurde. Man erinnere an die Cottbuser CDU, die bereits im Oktober 2023 gemeinsam mit der AfD einen Antrag zur Begrenzung der Flüchtlingsaufnahmen durch die SVV brachte.
Seit einem Jahr aber, seit die AfD mehr als ein Viertel der Kreistagsmandate, 248 von insgesamt 942 Sitzen, innehat und in manchen Kommunalparlamenten ihre Präsenz verdoppelte, wird die Schlagzahl höher. Sei es, dass die AfD als Mehrheitsbeschaffer dient oder ein AfD-Antrag mehrheitlich beschlossen wird.
Einen Kreistagsvorsitz errang die AfD in keinem der elf Kreistage, in denen sie einen Kandidaten aufgestellt hatte. "Bei den konstituierenden Sitzungen hat sie gehalten, aber es gibt ordentlich Druck auf der Brandmauer", sagt Christoph Schulze, Rechtsextremismusforscher am Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam. Er definiert den Begriff Brandmauer als "das Bemühen der demokratischen Akteure, nicht auf die Unterstützung der AfD angewiesen zu sein." In den konstituierenden Sitzungen beobachtete er "die prinzipielle Bereitschaft von Nicht-AfD-Mitgliedern, für AfD-Kandidaten zu stimmen". Dies deutet darauf hin, dass sich "Normalisierungstendenzen verstärken könnten", sagt Schulze.
In einem Gastbeitrag für die rechtsextreme Zeitschrift "Sezession" schrieben AfD-Landeschef René Springer und Landtagsfraktionschef Hans-Christoph Berndt 2022: "In den Kommunen sind die Mauern für die AfD am niedrigsten. (...) Hier geht es um Sachfragen, hier hat die Politik das Gesicht des Nachbarn. Hier ist als Fundamentalopposition nichts, aber als Volkspartei viel zu gewinnen."
CDU, FDP und Wählergruppen kooperieren
Bereits in der Wahlperiode 2019 bis 2024 fanden in Brandenburger Kreisen und kreisfreien Städten 99 AfD-Anträge mehr Stimmen als AfD-Abgeordnete in der jeweiligen Sitzung anwesend waren, listet eine Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin zur Sozialforschung (WZB) auf. Dabei handelte es sich um 91 inhaltliche und um acht personelle Kooperationen. Bei 41 AfD-Anträgen kamen mindestens zehn Prozent der Stimmen von Nicht-AfD-Mitgliedern. Am häufigsten fanden AfD-Anträge in Cottbus (85 Prozent von allen AfD-Anträgen), Oder-Spree (52,8 Prozent) und Brandenburg an der Havel (52,4 Prozent) Zuspruch aus dem Nicht-AfD-Lager. "Parteipolitisch sind es gerade kleinere Parteien, die besonders häufig mit der AfD kooperieren, gefolgt von FDP und CDU", schreiben die Wissenschaftler Wolfgang Schroeder, Daniel Ziblatt und Florian Bochert. Auf der kommunalen Ebene seien pragmatisches Verhalten, Kooperationsfähigkeit und damit auch der Konsensdruck sehr ausgeprägt.
In Brandenburg sieht Politikwissenschaftler Schulze am ehesten bei CDU und FDP die Bereitschaft zur Kooperation, sowie bei nicht parteigebundenen Abgeordneten. In den Kreistagen sitzt eine Vielzahl an lokalen und regionalen Listenvereinigungen und Wählergemeinschaften, frei von Disziplin zu bundesweit agierenden Parteien. Einige haben sich einer CDU-Fraktion angeschlossen.
CDU-Chef und Kanzler Friedrich Merz beschränkte 2023 ein AfD-Kooperationsverbot lediglich auf "gesetzgebende Körperschaften", also auf die europäische, Bundes- und Landesebene. Für bundesweite Proteste sorgte der Bundestagsbeschluss von Merz’ Asylprogramm mit AfD-Stimmen vor der Bundestagswahl.
Im Kreistag in der Uckermark gebe es eine "eingerissene Brandmauer", sagt Linke-Fraktionsvorsitzender Axel Krumrey. Nicht nur bei der Rettung der Krankenhäuser hätten Abgeordnete von CDU, Freien Wählern und einem BSW-nahen Bürgerbündnis mit der AfD gestimmt, auch beim AfD-Antrag zur Liveübertragung der Kreistagssitzung im Dezember (dieser fand keine Mehrheit) oder bei Fragen zu Asylunterkünften. "In Einzelfällen haben CDU-Anträge durch die AfD die Mehrheit gefunden", sagt Krumrey.
Seiner Beobachtung nach gebe es keine offenen Absprachen, es seien eher "beidseitige Mitnahmeeffekte". Krumrey sagt: "In der letzten Legislaturperiode wurde aus unserer Sicht der Grundstein gelegt."
Im Kreistag in Potsdam-Mittelmark kam es nicht nur zu einem AfD-Stellvertreter und dem Anti-Gender-Beschluss. Es scheint, als herrsche ein gutes Verhältnis zwischen CDU und AfD, berichtet Myriam Krawczyk, Fraktionsvorsitzende der Grünen. Bei einem Antrag für ein Bekenntnis des Kreises zum Demokratiebündnis "Brandenburg zeigt Haltung!" inklusive konkreter Maßnahmen stimmten im Mai AfD und CDU dagegen. Es sei zur "Kampfabstimmung rechts gegen links" gekommen, so Krawczyk. Argumente der Brandmauer würden im Kreistag beiseite geschoben und auf "ein gutes Miteinander" verwiesen.
Lars Hünich, AfD-Fraktionsvorsitzender, bestätigt: "Man redet auch mal mit der CDU oder den Freien Wählern inhaltlich, weil man mehr Schnittpunkte hat." Er sei "sehr zufrieden" mit dem Umgang mit der AfD im Kreistag in Potsdam-Mittelmark, auch wenn manche die Brandmauer aufrechterhalten wollen. Er sagt: "Die Brandmauer schadet den anderen Parteien mehr als uns." So müssten sie sich nicht politisch beweisen. Zugleich sagt Hünich: "Wir wollen die Verwaltung nicht behindern."
Im Kreistag in Barnim werde die Zusammenarbeit von AfD und CDU nicht offiziell benannt, aber "inoffiziell ist die Zusammenarbeit da", sagt Lutz Kupitz, Linke-Fraktionsvorsitzender. Der AfD-Kandidat wurde "mit Stimmen der CDU" Kreistags-Stellvertreter, der Linke-Kandidat unterlag. Beim CDU-Antrag zur Arbeitspflicht für Asylbewerber wirkte die AfD als "Mehrheitsbeschaffer".
Auch in den Ausschüssen gibt es Beispiele, "die offenbar eine Zusammenarbeit belegen", so Kupitz: CDU und AfD kritisierten im Kulturausschuss im Februar die Kulturförderung für die Queeren Wochen des Vereins CSD Eberswalde, das Projekt wurde mit vier zu drei Stimmen von der Förderliste gestrichen. Im Rechnungsprüfungsausschuss am Mai forderte die CDU mit einem Antrag die Überprüfung einer Flüchtlingsunterbringung. Die AfD hatte "nach unseren Gesprächen mit der CDU" ihren Änderungsantrag diesbezüglich zurückgezogen, heißt es in einer E-Mail der AfD-Fraktion an die Kreisverwaltung, die den Kreistagsmitgliedern vorliegt.
Im Kreistag in Oder-Spree sei die Brandmauer "nicht immer, aber Gott sei Dank existent", berichtet Mathias Papendieck, SPD-Fraktionsvorsitzender. Ihn ärgert der beschlossene "Schaufenster-Antrag" der AfD zur Verpflichtung von Asylbewerbern zur Arbeitsaufnahme, dem die Fraktion FDP/Bauern-Jäger-Angler/Bürgervereinigung Fürstenberg zur Mehrheit verhalf, auch weil sich BVB/Freie Wähler enthielten. "Es ist ein Antrag, der bereits in Bearbeitung ist, und erneut beschlossen wurde", so Papendieck. Den vorherigen CDU-Antrag im Mai 2024 hatte die SPD mitgetragen. Auch bei Personalfragen wie der jüngsten Beigeordnetenwahl und bei Geschäftsordnungsanträgen würde die Brandmauer auf die Probe gestellt, sagt Papendieck.
In den Kreistagen in Prignitz, Ostprignitz-Ruppin, Oberhavel, Havelland und Oberspreewald-Lausitz (OSL) gab es laut der befragten Kreistagsmitglieder bisher weder Anträge, die durch die AfD zur Mehrheit fanden, noch beschlossene AfD-Anträge. "Es ist nur eine Frage der Zeit", sagt Mario Dannenberg, Linke-Fraktionsvorsitzender in OSL.
CDU betont Unvereinbarkeit, AfD nutzt Präsenz
Der CDU-Generalsekretär Gordon Hoffmann betont: "Für die CDU gilt auf allen Ebenen der Unvereinbarkeitsbeschluss, dass es keine Koalition oder koalitionsähnliche Zusammenarbeit mit der AfD geben wird. Wer keine klare Abgrenzung zum Extremismus besitzt, ist für uns kein Partner. Der Begriff der Brandmauer hat nie zu unserem Sprachgebrauch gehört."
In Cottbus sagte der CDU-Fraktionschef Jörg Schnapke bei der konstituierenden Sitzung im Juli gegenüber der Lausitzer Rundschau: "Im Lokalen gibt es die Brandmauer nicht."
AfD-Landeschef René Springer sagt: "Unsere wachsende Präsenz zwingt zur Auseinandersetzung: Manchmal sind wir das entscheidende Zünglein an der Waage." Er berichtet von einer systematischen Ausgrenzung in den kommunalen Vertretungen und zugleich "bekommen unsere Anträge gelegentlich Mehrheiten oder werden zumindest in Ausschüsse überwiesen, und auch Geschäftsordnungsanträge finden hier und da Zustimmung." Springer sagt: "Wo wir stärkste Kraft sind, lassen sich zentrale Entscheidungen ohne uns kaum mehr treffen." Gespräche mit anderen Fraktionen fänden meist informell statt, teils konstruktiv.
Brandenburgs neuer Innenminister René Wilke (parteilos, früher Linke) nannte die Brandmauer im Kommunalen, als er noch Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) war, "ein sehr theoretisches Konstrukt". Er sagte: "Eine Brandmauer dahingehend, jede Vorlage, bei der die AfD mit gestimmt hat, abzulehnen, das haut nicht hin." Bei 90 Prozent der Vorlagen sehe man erst bei der Abstimmung, wie es ausgehe.
Andrea Johlige, ehemals für die Linken im Landtag und im Kreistag Havelland, mahnt zu unterscheiden: "Haben sie vorher gewusst, dass die AfD mitstimmen wird und haben sie darauf gesetzt? Gab es Absprachen? Oder war es eine Zufallsmehrheit?" Man könne nicht verhindern, dass die AfD zustimmt.
Johannes Wagner, Geschäftsführer des Landkreistags, verweist darauf, dass die Verwaltungsarbeit nicht blockiert werden dürfe. Ab und an müsse man daher die AfD als Mehrheitsgeber in Kauf nehmen. Er appelliert aber an die demokratischen Parteien: "Klar ist: Man darf und sollte sich nicht von der AfD abhängig machen." Zudem sollte man deutlich die Ideologie der AfD ablehnen. Zugleich sollten die demokratischen Akteure nichts unversucht lassen, um Moderate zurückzuholen. Wagner sagt: "Die AfD ist politisch wählbar. Man darf nicht an ihnen vorbei agieren."
Das sagt auch Ronald Weber, Linke-Fraktionsvorsitzender in der Prignitz: "Die AfD auszugrenzen, ist nicht sinnvoll. Wir versuchen, objektiv mit ihnen umzugehen." Eine Zusammenarbeit gebe es nicht, aber man toleriere sie. Zumindest die Moderaten. Ein Ex-Mitglied der Jungen Alternative fand keine Mehrheit als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses.
Einig sind sich viele der Befragten, dass die Brandmauer eine Ebene darunter, in den Gemeinden und Städten, noch mehr wackle. Aus mehreren Stadtverordnetenversammlungen berichten Kommunalpolitiker von gemeinsamen Abstimmungen von AfD und Freien Wählern oder CDU.
In der vorherigen Legislaturperiode führten manche Gemeindebeschlüsse zu Aufsehen: In Forst (Spree-Neiße) hatten 2020 Linke mit der AfD gestimmt, in der Gemeinde Bestensee (Dahme-Spreewald) brachten CDU, AfD und die Unabhängigen Bürger (UBBP) 2020 einen gemeinsamen Antrag ein. Im April 2024 unterzeichneten demokratische Parteien in der Uckermark mit Rechtsextremen einen Brief zur friedlichen Lösung des Ukraine-Kriegs. Nun wird auch in den Gemeinden öfter mit der AfD gestimmt.
Die Auflistung der Kreistagsbeschlüsse erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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Seit einem Jahr ist die AfD in 16 von 18 Brandenburger Kreisen stärkste Kraft und verhilft so manchem CDU-Antrag zur Mehrheit.
Für Brandenburgs Innenminister René Wilke ist die Brandmauer "ein sehr theoretisches Konstrukt".
Infobox
Beschlüsse mit der AfD
Dezember 2024, Kreistag Teltow-Fläming: Der Antrag auf Genderverbot im Schriftverkehr der Kreisverwaltung von CDU und Bauernverband findet mit Zustimmung der AfD eine Mehrheit.
Dezember 2024, Kreistag Potsdam-Mittelmark: Der Antrag von CDU und FDP/IGH zur Verwendung des generischen Maskulinums in der Hauptsatzung des Landkreises findet mit AfD-Stimmen die Mehrheit.
Dezember 2024, Kreistag Oder-Spree: Der AfD-Antrag zur Verpflichtung von Asylbewerbern zur Arbeitsaufnahme findet mit 21 Stimmen eine Mehrheit. Die Fraktion FDP/Bauern-Jäger-Angler/Bürgervereinigung Fürstenberg stimmt mit. Im Mai 2024 wurde bereits ein ähnlich lautender CDU-Antrag beschlossen, der sich bereits in Umsetzung befindet.
Juli 2024, Kreistag Potsdam-Mittelmark: Marlon Deter (AfD) wird im zweiten Wahlgang mit 30 Stimmen zum ersten Stellvertreter der Kreistagsvorsitzenden gewählt, der SPD-Kandidat Dietmar Otto unterliegt. Die AfD hat im Kreistag elf Sitze.
Juni/ Juli 2024, Kreistage Dahme-Spreewald, Oder-Spree, Uckermark, Prignitz: In vier Kreistagen wird der AfD-Kandidat zum zweiten Stellvertreter der Kreistagsvorsitzenden gewählt. Bei den Abstimmungen um diesen Posten errang die AfD insgesamt 305 Stimmen bei 181 AfD-Abgeordneten in den 13 Parlamenten, wo sie für diesen Posten antrat.
Infobox
Beschlüsse mit der AfD
März 2025, Kreistag Barnim: Die CDU beschließt mit Stimmen der AfD eine Arbeitspflicht für Asylbewerber und Bürgergeldempfänger ab 2026. Die AfD hatte zuvor ihren eigenen Antrag dazu zurückgezogen.
Januar 2025, Landkreis Uckermark: In der von der AfD beantragten Sondersitzung findet der AfD-Antrag zur Sicherstellung der Notfallversorgung der von Schließung bedrohten GLG-Krankenhausstandorte Prenzlau und Angermünde eine Mehrheit durch Stimmen von CDU, FDP, Freie Wähler sowie zwei Wählergruppen. Nur SPD, Linke und Grüne stimmen dagegen.