Gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Süddeutsche Zeitung, (B) vom 31.05.2025, S. 5 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, München)

        
Rubrik im PS:Gesamtwirtschaftliche Entwicklung
Autor:Hans Peter Bull
Auflage:114.850
Reichweite:421.500
Quellrubrik:Meinung

Regeln schützen

Bürokratieabbau ist ein populäres Schlagwort. Aber sobald Probleme auftauchen, rufen bald diejenigen nach dem Staat, die seine Eingriffe sonst verteufeln.

Es ist erstaunlich und spricht nicht gerade für den Realitätssinn von Parteien und Wirtschaftslobby, dass nach wie vor behauptet wird, der Abbau von "Bürokratie" werde wesentlich dazu beitragen, die deutsche Wirtschaft wieder auf hohe Touren zu bringen. Alle bisherigen Versuche, die Produktivität der Unternehmen durch Abschaffung lästiger Auflagen und Pflichten anzukurbeln, haben geendet wie der Tiger als Bettvorleger: vorab markige Ankündigungen, am Ende kleine Entlastungen, alles andere als ein Konjunkturmotor oder gar ein Epochenwechsel.

Wirtschaftsinstitute, Wissenschaftler und Medien verbreiten seit Jahrzehnten Zahlen, die belegen sollen, dass die "alles erstickende Bürokratie" die Unternehmen zwinge, Investitionen in Deutschland zu überdenken und die Abwanderung ins Ausland zu erwägen. Genannt werden zwei-oder dreistellige Milliardenbeträge jährlich. Noch höher seien die Kosten entgangener Wirtschaftsleistung.

Diese Zahlen sind nicht überprüfbar, weil nicht klar ist, was alles als überflüssige Bürokratie angesehen wird, und sie sind letztlich irrelevant. Denn so hoch auch die Gesamtbelastung erscheinen mag – vor allem müsste der Nutzen gegengerechnet werden, der den Unternehmen selbst und der Gesellschaft durch die vermeintlich unnützen Auflagen entsteht. All die Ansätze zur Bürokratieentlastung sind für die Wirtschaft so enttäuschend ausgefallen, weil die Erwartungen viel zu hoch waren.

"Bürokratiekosten" sind in Wahrheit ganz überwiegend normale Kosten jeder wirtschaftlichen Aktivität, der Preis dafür, dass innerhalb einer gut organisierten Gesellschaft produziert und verkauft wird. Die Höhe dieser Kosten muss sich nach dem Grad des Risikos richten, das durch die jeweilige Tätigkeit verursacht oder verstärkt wird. Wer natürliche Ressourcen zur Herstellung handelbarer Güter nutzt, muss sie vor unbegrenzter Ausbeutung bewahren und schädliche Nebenwirkungen vermeiden.

Umweltschutz hat seinen Preis, der auch die staatliche Überwachung umfasst. Wer Produkte anfertigt, die den Verbrauchern Schaden zufügen können, sollte die Vorschriften zur Produktsicherheit schon aus eigenem Interesse einhalten. Wer mit Lebensmitteln handelt, braucht das Vertrauen der Kunden, dass er die Hygieneregeln beachtet. Arbeitsschutz ist unbedingt nötig, und Finanzdienstleister aller Art sollten akzeptieren, dass der Staat eine strenge Aufsicht führt, um ihre Kunden und sie selbst vor Kriminellen zu schützen. Kurz: Mit Rechtsvorschriften und Verwaltungshandeln schränkt der Staat die Wirtschaft nicht nur ein, sondern ermöglicht überhaupt erst Produktion und Austausch in geregelten Bahnen.

Wenn die "Bürokratiekosten" – wie der Bundesverband der Deutschen Industrie schreibt – im Schnitt heute rund sechs Prozent des Umsatzes der Unternehmen ausmachen, scheint das viel zu sein; rechnet man aber die vielfältige Infrastruktur dagegen, die der Staat bereitstellt, kann der Saldo durchaus positiv ausfallen. Der Nutzen lässt sich freilich – anders als die Kosten – nur zum Teil in Zahlen ausdrücken. Wie viel der Rechtsstaat und die rechtlich gebundene Exekutive wirklich wert sind, zeigt aber der Vergleich mit Ländern, in denen man sich nicht darauf verlassen kann, dass es korrekt zugeht: Niemand investiert gern in einem unsicheren Staat. Die deutsche Wirtschaft ist unter dem Regime des Rechts sehr gut gefahren. Deutschland wäre sonst kaum zur drittstärksten Wirtschaftsmacht der Welt geworden.

Der Gesetzgeber will aber oft allzu viel Sicherheit gewährleisten, dass alle Vorschriften eingehalten werden, und erhöht dadurch die Bürokratiekosten unnötig. Vermeidbar wären die Kosten für manche Berichte, Verzeichnisse, Statistiken und besondere Betriebsbeauftragte (etwa für den Whistleblowerschutz). Manche Verfahren könnten schneller werden. Die Pflicht zur Lieferkettenbeobachtung könnte gelockert, der Datenschutz gezielter geregelt werden. Diese Form von Bürokratieabbau ist eine mühsame und undankbare Daueraufgabe, kein Fall für ein politisches Sofortprogramm.

Es kann stets nur darum gehen, diejenigen Vorschriften zu ändern oder aufzuheben, die nicht zwingend erforderlich sind, und die Aufsicht und Kontrolle weniger perfekt zu organisieren. Denn wehe, wenn es versäumt wird, die Bankenaufsicht effektiv genug zu regeln, und eine Großbank ins Schlingern gerät, oder wenn infolge nachlässiger Kontrolle eine Brücke einstürzt oder eine Tierseuche ausbricht! Dann sind die Schäden größer, als der Vermeidungsaufwand gewesen wäre. Dann redet niemand mehr von übermäßiger Regulierung, sondern alle fordern mehr Staatseingriffe.

Der Normalbürger, der von überbordender Bürokratie hört, denkt an die ärgerlichen Verzögerungen, die bei der Bearbeitung seiner Anträge entstehen, und an unsinnige Verwaltungsakte, die auf engstirniger Gesetzesauslegung, Verantwortungsscheu oder Überlastung beruhen. Diese individuelle Bürokratiekritik hat mit den Alarmrufen aus der Wirtschaft kaum etwas gemein; ihr muss auf andere Weise begegnet werden als durch "Entpflichtung", zum Beispiel durch Aufstockung und bessere Ausbildung des Verwaltungspersonals, zum Teil (!) auch durch Digitalisierung. Das hieße, die "Bürokratie" aus-statt abzubauen, könnte aber sowohl die Bürger wie die Wirtschaft entlasten.

Am besten wäre es, die einzelnen Fehlentwicklungen konkret zu korrigieren – und gar nicht mehr von "Bürokratieabbau" zu sprechen.

Hans Peter Bull, Jahrgang 1936, war Professor für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg und von 1978 bis 1983 der erste Bundesbeauftragte für den Datenschutz sowie 1988 bis 1995 SPD-Innenminister von Schleswig-Holstein.