Prof. Dr. Nida-Rümelin

Neue Westfälische, Höxtersche Kreiszeitung vom 05.05.2025, S. 10 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, Höxter)

       
Rubrik im PS:Prof. Dr. Nida-Rümelin
Autor:Simone Flörke
Auflage:6.449
Reichweite:15.026
Ressort:Höxter
Quellrubrik:144-HT

"Ein Denker von Weltformat"

Volles Haus bei der Fallersleben-Rede mit Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin in Corvey. Der nennt den Dichter des Deutschlandliedes einen "Popstar" und warnt vor einer "gefährlichen Melange".

Höxter. Wie soll man eine Stunde Parforceritt durch Philosophie, Politik und Geschichte kurz in Worte fassen? Eine Stunde, die mit der Mahnung vor einer "gefährliche Melange" endete. Eine Stunde, in der Philosoph, Autor, Redner und Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümlein einen zeitlichen Bogen schlug vom 30-Jährigen Krieg bis zum Ukraine-Krieg in der Gegenwart. Von den Philosophen des 17. bis 21. Jahrhunderts. Von der Entwicklung von Staatlichkeit, Nationalismus und Patriotismus, von Menschenwürde, dem deutschen Grundgesetz und der Demokratie. Von der individuellen Freiheit und dem friedlichen Miteinander. Und mittendrin derjenige, dessen Denken und Tun von einst an diesem Tag zum Nachdenken und Tun von heute anregen sollte: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, nach dem diese Rede rund um den 1. Mai in Corvey benannt ist.

Volles Haus am Sonntag nach dem 1. Mai – dem neuen Datum der Rede – im Corveyer Kaisersaal: 180 Zuhörerinnen und Zuhörer applaudierten minutenlang dem 21. Fallersleben-Redner. Lange habe er nach einem Philosophen für diese Rede gesucht, so der Vorsitzende des Arbeitskreises im Heimat- und Verkehrsverein Höxter, Michael Stoltz. Nach einem "ungebundenen, freien Geist". Und ihn in dem Professor, ein studierter Philosoph und Naturwissenschaftler aus München sowie Gründer der Bundeskulturstiftung, Sozialdemokrat und Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule Berlin, gefunden. Der sei zwar seit vier Jahren emeritiert, aber immer noch jemand, der sich einmische und über Parteigrenze hinaus geachtet sei. "Ein Denker von besonderem Format. Von Weltformat".

Und dieser Denker warnte einleitend in seiner komplett freien Rede augenzwinkernd sein Publikum: Es könne "streckenweise philosophisch" werden, er gehe auf "philosophische Tiefenbohrung". Aber der 70-Jährige sagte auch: Ohne diese Einladung nach Corvey hätte er sich nicht so intensiv mit Fallersleben befasst. "Ich habe dabei viel gelernt." Beim "Gedankenfutter", bei "Denkanstößen", beim "Nachdenken über Deutschland in einer Zeit, in der Demokratie in einer schwierigen Lage" sei. Rümelin ging auch auf Hoffmanns Lied der Deutschen ein, zu dem es mit Bertolt Brechts "Kinderhymne" einst einen Konkurrenten um den Titel Nationalhymne gegeben habe. Und das seltsamerweise auf die Melodie der Kaiserhymne gesungen werde: "Also genau das Gegenmodell."

Er war beeindruckt von der "Aura des Ensembles Corvey", nannte Fallersleben einen seriösen Wissenschaftler ebenso wie einen "Popstar" seiner Zeit. Dessen Bodenständigkeit – aus einer Gastwirte-Familie stammend – habe wohl mit dazu beigetragen, dass seine Texte bei den Menschen so beliebt und bekannt gewesen seien. Sein Einsatz für die Freiheit des Einzelnen sowie gegen die Kleinstaaterei habe ihn zu einem gleich doppelten Widerständler gemacht.

Vier Vordenker moderner Staatlichkeit, Philosophen wie er selbst, nannte Nida-Rümelin auf dem Weg zu dem, was Demokratie heute ausmache. Und verdeutlichte mit einem Schwenk auf die "prekäre Rückkehr des Nationalismus" dessen Folgen: Vom Ersten und Zweiten Weltkrieg über die Balkankriege (im Ursprung Nationalitätenkonflikte) bis zum Ukrainekrieg, wo nach dem Angriffskrieg Russlands ein starkes ukrainisches Nationalbewusstsein gewachsen sei. Der Gegenentwurf: die multikulturelle und multisprachliche Schweiz. "Das funktioniert ganz gut." Eine "gefährliche Melange" sei aktuell die Verbindung von Nationalismus, Liberalismus und Demokratie.

Eine friedliche Welt könne funktionieren, wenn individuelle Rechte, demokratische Pflichten und die Kooperationspflicht nach außen wie nach innen gleichermaßen gelten. Und die Begegnung im wechselseitigen Respekt – "unabhängig davon, wer ich bin, woher ich komme, welche Religion ich habe" – gelinge. "Wenn das nicht gelingt, wird es schwierig mit der Demokratie, wird es schwierig mit der Zukunft des Weltfriedens."

"Nicht nur geistreich, sondern zutiefst ermutigend" nannte Höxters Bürgermeister Daniel Hartmann die Worte Nida-Rümelins. In einer Zeit, "in der die demokratische Kultur unter Druck geraten" sei, habe der 70-Jährige ein Plädoyer für Mäßigung und Humanität, Verantwortung statt Selbstgerechtigkeit gesprochen. Bevor er Nida-Rümelin den Fallerleben-Preis – nicht mehr als Plakette, sondern als Urkunde und dotiert mit 3.000 Euro – überreichte, dankte er dem Redner: Es brauche Stimmen, die nicht mit Lautstärke und Schlagworten aufträten, sondern mit Argumenten und Substanz.


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