Rubrik im PS: | Geisteswissenschaften / Gesellschaftswissenschaften / Politikwissenschaften / Bildungswissenschaften |
Autor: | Christoph Schreiner |
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"Polarisierung ist nicht so groß" - Saarbrücker Politikwissenschaftler untersuchen Vertrauen in Politik
Saarbrücken · Wie sehr wird Politik heute emotionalisiert? Wie groß ist das ihr entgegengebrachte Vertrauen? Und wie sehr polarisieren sich Menschen, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Social Media? Die beiden Saarbrücker Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaften haben dazu vergangene Woche auf dem Saarbrücker Uni-Campus eine politikwissenschaftliche Tagung organisiert.
Ihr Tagungsthema hat Zwischenergebnisse zweier Forschungsprojekte aufgegriffen, an denen Sie mit Ihren Lehrstühlen maßgeblich beteiligt sind. Kurz gesagt geht es etwa um die Frage, ob und inwieweit das Vertrauen in die Politik im EU-Vergleich gelitten hat. Welche ersten Ergebnisse zeigen Ihre eigenen Forschungen da?
Braun Unser Projekt ActEU, das wir gemeinsam mit Kristina Weissenbach von der Universität Duisburg-Essen unter Beteiligung von zehn europäischen Universitäten leiten, läuft über drei Jahre. Es geht dabei um den Rückgang des Vertrauens in die politischen Akteure. Da gibt es ein Messproblem, weil die übliche Frage, wie hoch etwa das Vertrauen in den Bundestag ist, schwierig zu beantworten ist. Wir versuchen, es besser zu machen. Unsere bisherigen Ergebnisse zeigen, dass wir nicht von einem Vertrauensrückgang in allen europäischen Ländern sprechen können.
Wie machen Sie es "besser"?
Braun Wir versuchen, bessere Fragen zu stellen und haben eigene Umfragen ins Feld gegeben. Wir haben 15 bis 20 Punkte entwickelt, über die wir Vertrauen in Politik erfragen, ohne das Wort Vertrauen zu benutzen. Wir versuchen so, die vier Ebenen von Politik - lokal, regional, national und EU - mit abzudecken. Und da sehen wir riesige Unterschiede.
Inwieweit riesige Unterschiede?
Braun Trotz des verbreiteten EU-Bashings ist das Vertrauen in EU-Institutionen in vielen Ländern höher als das in nationale. Es gibt jedoch auch einige südeuropäische Länder und solche, die wie Griechenland stark von der Finanzkrise betroffen waren, in denen das Vertrauen in die EU zurückgeht. Deutschland aber steht gar nicht so schlecht da, was das Vertrauen betrifft.
Heutige empirische Politikforschung ist oft stark datenbasiert. Manchmal entsteht der Eindruck, dass die Ergebnisse Momentaufnahmen sind und der Erwartung entsprechen. Was ist der große Unterschied zu Meinungsforschungsinstituten?
Braun Wir kombinieren qualitative und quantitative Aspekte. Im Unterschied zu Meinungsforschungsinstituten schauen wir nicht nur einen bestimmten Zeitpunkt an, sondern Datensätze auch über Zeiträume von 30 Jahren sehr genau an. Nur so lassen sich substanzielle Aussagen machen.
Wenzelburger Der Vorwurf, wir würden mit unseren Daten nur zeigen, was man sowieso schon weiß, ist verbreitet. Wenn wir es mal umdrehen: Ist es nicht viel sinnvoller, belastbare Aussagen anhand von Daten - etwa Parlamentsreden, Interviews oder differenzierte Umfragen zu machen, anstatt Thesen zu formulieren und dann dazu passende Daten zu suchen? Für uns ist dies ein zentrales Element sozialwissenschaftlicher Forschung, das verhindert, dass jeder das, was er oder sie gerade so glaubt und mit Evidenz unterfüttert, dann auch so findet. Nein, die Evidenz muss zuerst kommen. Wenn also gesagt wird, was ihr da gezeigt habt, wissen wir ohnehin, muss man fragen: Wissen wir's wirklich? Anhand von Daten und nachvollziehbaren Methoden können wir Dinge belegen. Darum geht es.
Wie fließt das in das von Ihnen mit geleitete andere internationale Forschungsprojekt "Protemo" ein, das untersucht, inwieweit Emotionen die Politik mit prägen?
Wenzelburger Wir erheben unsere Daten in einer großen internationalen Umfrage über drei Zeiträume hinweg und in Interviews sowie Gruppendiskussionen. Zur Auswertung nutzen wir qualitative und quantitative Methoden. Eines der Themenfelder, das uns dabei etwa interessiert, ist die Frage, inwieweit Sicherheitsfragen Politik bestimmen. Sind Menschen deshalb bereit, auf Grundrechte oder Datenschutz zu verzichten, wenn das mehr Sicherheit verspricht?
Eine verbreitete Wahrnehmung ist, dass Demokratien aufgrund von Zukunfts- und Abstiegsängsten, wirtschaftlicher Verunsicherung oder Migration mehr soziale Spaltung und Polarisierungen erleben. Deckt sich das mit Ihren Befunden?
Braun In den Medien ist häufig von dieser angeblichen Polarisierung der Gesellschaft die Rede. Schaut man sich unsere Umfragen an, zeigt sich, dass die Polarisierung nicht so groß ist. Weder, was Klima-, Migrations- noch was Genderfragen anbelangt. Wir schauen uns in unserem Projekt ActEU Beiträge an, die auf Social Media gepostet werden. Dort gibt es eine gewisse Polarisierung, aber auch hier weniger stark als immer vermutet.
Wenzelburger Die ersten Studien zu dem Thema kamen aus den USA. Dort gibt es eine sehr viel deutlichere affektive Polarisierung. Man vermutet oft, dass die USA uns die eigene Zukunft zeigen. Das stimmt aber nur bedingt. Die USA haben ein ganz anderes Parteiensystem und eine andere politische Kultur.
Der Soziologe Steffen Mau ist in seinem Buch "Triggerpunkte" auf Basis vieler Daten zu dem Schluss gekommen, dass die Polarisierung in Deutschland sehr viel geringer ist, als gemeinhin angenommen. Lässt sich daraus folgern, dass die Medien Polarisierungen unterstellen, weil sie Teil ihres Geschäftsmodells sind?
Braun Man kann in europäischen Medien nachweisen, wie sehr dort immer wieder von Polarisierung und Vertrauensverlust die Rede ist. Umso wichtiger sind empirische Fakten. In Steffen Maus Buch wird aber zumindest aufgezeigt, dass es zwischen Anhängern der Grünen und der AfD eine deutliche Polarisierung gibt. Aktuell sind das noch nicht die Mehrheitsparteien. Doch selbst dann würde sich diese Polarisierung durch die Pluralität unseres Parteiensystems im Unterschied zu dem in den USA wohl wieder stärker regulieren.
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Wird Politik heute emotionaler beurteilt von den Bürgern?
Wenzelburger Es gibt dazu bisher wenig vergleichende Studien. Aus denen, die es gibt, wissen wir allerdings, dass es große Unterschiede in Europa gibt. Es gibt Länder - Frankreich gehört etwa dazu - , in denen der politische Diskurs emotionaler geworden ist. Noch aber wissen wir nicht genau, weshalb es diese Unterschiede gibt. Bekannt ist, dass Themen, die mit Bedrohung und Sicherheit zu tun haben, emotionaler bewertet werden und es zu Überreaktionen kommt. In Deutschland fällt mir da etwa das Thema der Nutzung von Fotos Minderjähriger im Netz ein, dass im Zusammenhang mit Ermittlungen zu Kindesmissbrauch hochkochte und Gesetzesverschärfungen nach sich zog. In deren Folgen konnten Eltern, die auf Social Media geteilte Fotos ihrer Kinder etwa aus Präventionsgründen an Schulleitungen weiterschickten, strafrechtlich belangt werden.
Verändert die Social-Media-Welt durch ihre Vereinfachungen und Stereotypen, gepaart mit der Dauerbestätigung der eigenen Vorurteile durch die Blasenbildung, die Wahrnehmung von Politik?
Braun Diese Phänomene sind sehr schwer zu untersuchen. Wir haben in ActEU versucht, Twitterdaten zu analysieren, weil die eine Weile noch zugänglich waren. Twitter hat uns dann aber den Zugang verwehrt.
Wenzelburger Ob Twitter, Instagram oder Tiktok, die ja alle zu einer Fragmentierung der Blasen führen: Eigentlich müsste man jede Blase separat anschauen und auswerten. Wir haben aber keinen Zugang. Zwar könnte man es durch den Digital Service-Act der EU einklagen. Aber selbst dann würde es Jahre dauern, ehe man an diese Daten kommt.
Leichter als auf der User-Ebene lässt sich die Frage des Vertrauens in Politik oder deren Emotionalisierung auf Seiten der politischen Akteure untersuchen. Etwa, indem man, wie Sie es tun, Parlamentsreden oder politische Interviews untersucht. Was stellen Sie da fest?
Wenzelburger In Deutschland zeigt sich etwa, dass die Debatten mit dem Einzug der AfD in die Parlamente emotionaler geworden sind. Etwa durch Zwischenrufe. Auch aus Interviews lässt sich manches ableiten. Ich habe gerade in Bayern einige mit politischen Entscheidern zu dem dortigen Strafvollzugsgesetz und Einschränkungen des Offenen Vollzugs geführt. Kurz gesagt, zeigt sich: Politik lässt sich von der Emotionalität eines Themas beeinflussen, wenn dadurch der Bevölkerung suggeriert werden kann, auf der sicheren Seite zu sein.
Ist es, was die Analyse politischer Aussagen angeht, nicht schwierig, Sach- und Emotionsebene zu unterscheiden oder die Trennlinie zu ziehen, wo Politiker auf die Emotionalisierung der Wählerschaft zielen?
Wenzelburger Das ist in der Tat sehr schwierig. Im Grunde müsste man die Motive der politischen Eliten mittels guter Umfragen analysieren, was aber kaum geht. Daher greifen wir auf qualitative Interviews zurück, da lernt man durchaus einiges.
Weshalb setzt die deutsche Politikwissenschaft verstärkt auf streng empirische Datenanalysen?
Braun Das hat neben einem Generationenwandel auch mit dem Kompetitiven unserer Wissenschaft zu tun. Der Wettbewerb läuft über Veröffentlichung in internationalen Journals. Das Wissenschaftssystem zwingt zumindest Nachwuchswissenschaftler, wettbewerbsfähig zu forschen. Wir Lehrstuhlinhaber können eher mal wieder einen Schritt zurückgehen und kritisch hinterfragen, was wir tun. Das ist auch ein Sinn und Zweck solcher Konferenzen wie unserer Tagung.
Wenzelburger Hinzu kommt die Drittmittelorientierung. Heute zieht man sich nicht mehr fünf Jahre zurück, um dann ein Buch auf Deutsch zu schreiben. Es gibt eine viel stärkere Orientierung an internationalen Standards. Es geht weniger darum, große Thesen in den Raum zu stellen, sondern darum, Debatten durch empirische Analysen zu versachlichen.
Inwieweit lassen sich Demokratien durch partizipative Prozesse stärken? Wir erleben ja gerade, dass Politik in der Vorstellung nicht weniger Leute einem Dienstleister gleich "liefern" soll, ohne dass diese Leute auch eine eigene Verantwortung sehen.
Braun Das teils verloren gegangene Vertrauen in politische Institutionen könnte womöglich durch bürgernahe Institutionen wiedergewonnen werden. Das Problem solcher Bürgerräte ist, dass nur die erreicht werden, die sich sowieso einbringen wollen. Man müsste also überlegen, wie man die zur Mitwirkung motiviert, die nur ein geringes Interesse an Politik haben.
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Inwieweit nehmen Sie auch die Politik im Saarland mit in den Blick?
Wenzelburger Wir planen, 2026 politische Akteure im Saarland in einem Workshop zum Thema Politik und Emotionen zu befragen. Gleiches ist auch mit Bürgern geplant.
Braun Wir gehen etwa in Schulen. Zuletzt haben wir mit Oberstufenschülern an der Gemeinschaftsschule Dudweiler über Vertrauen und Polarisierung und ihre Verbesserungsvorschläge gesprochen. Da wurde etwa gesagt, dass Parteien mehr über europäische Themen sprechen müssten oder einer sagte, dass Social Media am besten verboten würde, weil es zu viel Zeit frisst und sich daraus nichts Positives ergebe. Viele haben auch kritisch angemerkt, dass es zu wenig politische Bildung in Schulen gebe.
Welche Empfehlungen hätten Sie, um Demokratien zu stärken?
Braun Politische Bildungsarbeit ist das A und O. Das fängt in der Schule an und hört bei Erwachsenen auf. Da wir im Saarland seit 20 Jahren schon keine Lehramtsausbildung in Politik haben, werden Politik und Sozialkunde gerne fachfremd unterrichtet. Oft von Geschichtslehrern, die den Fokus auf Geschichte legen. Hinzu kommt, dass auch in der Erwachsenenbildung immer dieselben Verdächtigen angezogen werden. Man müsste dringend an die Leute herankommen, die ein politisches Desinteresse haben - gepaart mit dem Gefühl, dass "die da Oben" angeblich sowieso machen, was sie wollen. Die müssen wir in die politischen Debatten und damit in einen Austausch zurückholen. Auch müsste die unterfinanzierte politische Bildung ausgebaut werden. Dazu gehört etwa, dass auch Betreuungsangebote für die Kinder der Teilnehmer gemacht werden, wenn man Bürgerräte installiert. Außerdem müssen solche Räte etwas bewegen können, sprich eine Umsetzung stattfinden. Sonst hat es eher den gegenteiligen Effekt.