Hans-Böckler-Stiftung

Süddeutsche Zeitung, (B) vom 31.05.2025, S. 6 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, München)

       
Rubrik im PS:Hans-Böckler-Stiftung
Autor:Benedikt Peters
Auflage:114.850
Reichweite:421.500
Quellrubrik:Politik

Abschied vom Acht-Stunden-Tag?

Die Regierung will eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit einführen. So wären längere Arbeitstage möglich. Forscher warnen.

München – Das Vorhaben steht im Koalitionsvertrag auf Seite 18: Die Arbeitswelt sei im Wandel, Beschäftigte und Unternehmen wünschten sich mehr Flexibilität. "Deshalb wollen wir", schreiben Union und SPD, "im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen." Übersetzt heißt das: Nicht alle, aber manche Arbeitnehmer werden sich künftig vom Acht-Stunden-Tag verabschieden müssen.

Die Details der neuen Regelung in Deutschland sind noch nicht klar; im Koalitionsvertrag heißt es, über die "konkrete Ausgestaltung" wollten Union und SPD noch mit Arbeitgebern und Gewerkschaften sprechen. Im Grundsatz aber soll es so laufen, wie die europäische Arbeitszeitrichtlinie vorgibt. Demnach dürfen die Beschäftigten binnen sieben Tagen maximal 48 Stunden arbeiten, pro Tag sind auch mehr als der in Deutschland üblichen acht oder höchstens zehn Stunden erlaubt. Gesetzliche Pause- und Ruhezeiten – zwischen Arbeitsende und dem nächsten Arbeitsbeginn müssen in der Regel mindestens elf Stunden frei sein – müssen jedoch eingehalten werden. Bestehende Regeln etwa aus Tarifverträgen sollen nicht angetastet werden.

Wissenschaftler des Hugo-Sinzheimer-Instituts, das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört, haben nun ausgerechnet, was der Plan von Union und SPD für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeuten könnte – und sie warnen vor den Konsequenzen. "Die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit würde faktisch nach Abzug der Mindestruhezeit von elf Stunden und der entsprechenden Ruhepause von 45 Minuten eine tägliche Höchstarbeitszeit von zwölf Stunden und 15 Minuten ermöglichen", schreiben die Autoren Amélie Sutter-Kipping und Laurens Brandt.

Dies sei ein "Irrweg", argumentieren sie: Die Einführung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit laufe dem Plan der Bundesregierung zuwider, mehr Menschen in Deutschland dazu zu bringen, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Eine Steigerung des Arbeitszeitvolumens in Deutschland ist aus Sicht vieler Ökonomen notwendig, um die Auswirkungen des demografischen Wandels zu lindern; dieser führt schon jetzt zu einem Mangel an Arbeitskräften, der sich mit dem Renteneintritt vieler Babyboomer in den nächsten Jahren noch weiter verschärfen wird.

Mögliche Arbeitszeiten von bis zu zwölf Stunden und 15 Minuten führten jedoch dazu, dass sich künftig mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer krankmeldeten, sagen Sutter-Kipping und Brand voraus. Arbeitsmedizinisch sei "längst erwiesen, dass Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden die Gesundheit gefährden". Es komme häufiger zu stressbedingten Erkrankungen wie Erschöpfungszuständen und dem Burn-out-Syndrom, außerdem steige das Risiko für Schlaganfälle, Krebs und Diabetes. Das Unfallrisiko steige ab der achten Arbeitsstunde exponentiell an, Arbeitszeiten von über zehn Stunden täglich würden als hochriskant eingestuft. Nach zwölf Stunden sei die Unfallrate bei der Arbeit oder der Fahrt nach Hause dop e Zeitung GmbH, München pelt so hoch wie nach einem Acht-Stunden-Tag. Darüber hinaus erschwere die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Vorgesetzte könnten verlangen, dass Beschäftigte an einigen Wochentagen länger arbeiteten; das mache den Alltag weniger planbar als bisher. "Es droht der Effekt einer weiteren Verringerung der Erwerbsarbeit gerade bei Frauen."

Die Arbeitgeber wiederum sind der Ansicht, das genaue Gegenteil sei der Fall.

Seit Jahren haben sie für die wöchentliche Höchstarbeitszeit geworben, auch mit dem Argument, dass sie den Beschäftigten mehr Flexibilität ermögliche. In einer Broschüre wirbt die Arbeitgebervereinigung BDA mit Beispielen aus dem Berufsalltag: Mitarbeiter großer Unternehmen mit Standorten in verschiedenen Zeitzonen könnten auch noch abends an Telefonkonferenzen teilnehmen; Chemikerinnen in Pharmaunternehmen könnten ihre Versuchsreihen beenden, auch wenn sie damit die bisher gültige tägliche Höchstarbeitszeit überschreiten würden. Dafür könnten sie an anderen Tagen weniger oder gar nicht arbeiten – und stattdessen, zum Beispiel, Kinder betreuen.

"Der Wechsel zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit bringt mehr Flexibilität für Arbeitgeber und Arbeitnehmer", sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter der SZ. Das wünschten sich viele Beschäftigte, "besonders aus familiären Gründen". Gefährdungen würden durch die fortbestehenden Pflichten, Ruhezeiten zu gewähren, ausgeschlossen. "Die Kritik ist an den Haaren herbeigezogen."

Wer hat nun recht? Es kommt wohl auf die Art der Arbeit an. Arbeitnehmer, die schon heute Spielraum bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit haben, dürften von der geplanten Regelung profitieren: Sie können, um Projekte fertigzustellen, auch mal rechtskonform Zwölf-Stunden-Tage einlegen und dafür das Wochenende um einen Tag verlängern. Wer aber am Fließband steht und kurzfristig bitte drei Stunden länger arbeiten soll, für den könnte die wöchentliche Höchstarbeitszeit tatsächlich deutlich mehr Stress bedeuten.

Die Bundesregierung dürfte versuchen, solche Konflikte in ihrem Gesetzesentwurf aufzufangen. Das Bundesarbeitsministerium teilte auf Anfrage mit, es werde das Vorhaben zügig aufgreifen. "Wie die konkrete Ausgestaltung im Einzelnen aussehen wird, bleibt abzuwarten."

Benedikt Peters

Nach zwölf Stunden ist die Unfallrate doppelt so hoch wie nach acht
Die Kritik sei "an den Haaren herbeigezogen"
, sagen die Arbeitgeber

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