Geisteswissenschaften / Gesellschaftswissenschaften / Politikwissenschaften / Bildungswissenschaften

Frankfurter Allgemeine Zeitung Online am 17.03.2025 (Internet-Publikation, Frankfurt am Main)

 
Rubrik im PS:Geisteswissenschaften / Gesellschaftswissenschaften / Politikwissenschaften / Bildungswissenschaften
Autor:k.A.
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Zivilgesellschaft, was soll das eigentlich sein?

Wie es dazu kam, dass an die Stelle politischer Bildung durch den Staat nach und nach die staatliche Förderung der Zivilgesellschaft getreten ist. Über die steile Karriere eines erstaunlich schwammigen Begriffs.

Gastbeitrag

Von Tim Schanetzky

Ist die staatliche Förderung von Nichtregierungsorganisationen, darunter Attac, Greenpeace oder Agora Energiewende, demokratiepolitisch sinnvoll? Die 551 Fragen der Kleinen Unionsanfrage haben Wellen geschlagen. Lars Klingbeil sprach als SPD-Vorsitzender von einem „Foulspiel“, und der Greenpeace-Chef konstatierte einen „Affront gegen die Zivilgesellschaft“. Ein offener Brief ging noch weiter. Über 2000 Wissenschaftler wollten in diesen Fragen den Versuch erkennen, „NGOs durch administrative Maßnahmen zu schwächen“, was an „vergleichbare Strategien zur Diskreditierung kritischer Organisationen“ durch Trump, Putin, Kaczyński oder Orbán erinnere.

Dass bei der Zivilgesellschaft anzusetzen sei, wenn der Staat etwas für die Demokratie tun will – diese Idee lässt sich bis in den Sommer 1990 zurückverfolgen. Damals arbeiteten Bundestag und Regierung an einem Bericht über die politische Bildung, wobei die Expertenanhörung des Vorjahres kaum Resonanz gehabt hatte. Nur Antje Vollmer und ihre Fraktionskollegen von den Grünen starteten damals eine Generalabrechnung. Politische Bildung habe bisher auf die Einübung von „Loyalität gegenüber Rechtsstaat und Verfassung“ gezielt. Eigentlich sei dort noch immer die Logik der alliierten „Reeducation“ am Werk, und nur so habe sich überhaupt eine „staatliche Aufsicht über politische Bildungsprozesse“ legitimieren lassen. Diese Vorstellungen seien aber längst hinfällig angesichts des Massenprotests in der DDR und des Zulaufs, den Bürgerinitiativen, Demonstrationen und andere Formen des Aktivismus im Westen gehabt hätten.

Attraktiv war der Begriff wegen seiner Unbestimmtheit

„Entwicklung der Demokratiefähigkeit“ gelte es stattdessen ins Zentrum zu rücken und „mündige Bürgerinnen und Bürger in der Einübung wirksamer Beteiligung am politischen Prozess“ staatlich zu unterstützen. Sie zu Kritik und Einmischung zu ermutigen – darauf komme es an. Die „Zivilgesellschaft“ rückte hier erstmals in den Fokus einer Politik der politischen Bildung. Attraktiv war der Begriff wegen seiner Unbestimmtheit: Zivilgesellschaft wird mal als Raum zwischen Staat, Markt und Privatsphäre verstanden, mal als Verhaltensmodus, der an Toleranz und Solidarität orientiert ist. Viele der damaligen Verfechter der Zivilgesellschaft hatten aber auch die Vorstellung eines dritten Weges zwischen Sozialismus und Kapitalismus im Gepäck, und so war die Popularität des Konzepts immer auch ein Symptom für den Utopieverlust der Linken. Hinzu kam ein heroischer Blick auf den Umbruch im Osten, der Aktivisten und Demonstranten wichtiger fand als die Anziehungskraft der „liberalen Demokratie kombiniert mit günstigen Videorekordern und Stereoanlagen“, von der Francis Fukuyama im Sommer 1989 salopp gesprochen hatte.

Am Ende des Kalten Krieges füllte die Zivilgesellschaft aber nicht nur ideologische Lücken, sondern signalisierte zugleich rot-grüne Übereinstimmungen. Mit den Grünen blickten nämlich auch Teile der Sozialdemokratie kritisch auf die Parteiendemokratie und wollten etwas gegen „Politikverdrossenheit“ tun. Ein wichtiges Vorbild dafür war die im Frühjahr 1990 reformierte Schleswig-Holsteinische Landesverfassung. Mehr direkte Demokratie verstand sich dort als Reaktion auf die Barschel-Affäre. Zugleich war die Verfassungsreform ein Testfall für die Einflussmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Organisationen. Typisch dafür war die Initiative Demokratie Entwickeln (IDEE, heute: Mehr Demokratie e.V.), die von Bonner Grünen wie Gerald Häfner und Lukas Beckmann erst 1988 gegründet worden war. Trotz der Finanzierung aus dem grünen Stiftungskosmos, der später in die Heinrich-Böll-Stiftung überführt werden sollte, trat sie in den Kieler Parlamentsanhörungen als überparteiliche Instanz auf.

Der Aktivismus hinterließ dauerhafte Spuren

Auch an der ersten gesamtdeutschen Bürgerinitiative beteiligten sich IDEE-Aktivisten im Sommer 1990 federführend und begannen auf eine direktdemokratische Revision des Grundgesetzes hinzuarbeiten. Dauerhafte Spuren hinterließ dieser Aktivismus in den Verfassungen der fünf neuen Länder, die in Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern von den Bürgern per Referendum angenommen wurden. Bald ergänzten sozialdemokratisch regierte Länder wie Niedersachsen, Berlin und Hamburg ihre Verfassungen oder senkten die Hürden der direkten Bürgerbeteiligung wie in Bremen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Man wollte, so der programmatische „Hofgeismarer Entwurf“ ebenfalls schon im Sommer 1990, einen „Beitrag zu einer auf Selbstorganisation und Eigeninitiative gerichteten demokratischen Kultur“ leisten.

So rückte die Vorstellung vom Zusammenhang zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und innerer Demokratisierung in den Mittelpunkt. Es ist sicher nicht falsch, sie auf die Erfahrung des alternativen Milieus zurückzuführen – allerdings darf man nicht nur das urbane Lebensstildreieck aus Wohnprojekt, Naturkostladen und Alternativbühne im Sinn haben, sondern muss auch an die Härte der politischen Auseinandersetzung erinnern, in der die „Altparteien“ (so eine grüne Formulierung bereits 1978) seit dem Flick-Skandal unter Korruptionsverdacht standen.

Mit der rot-grünen Bundesregierung von 1998 markierte die Vorstellung von der Zivilgesellschaft dann bereits eine ideelle Überschneidung zwischen Koalitionspartnern, und in Angela Merkels langer Regierungszeit griff die Union zwar nicht die Rhetorik auf, wohl aber entsprechende Problemlösungen.

„Demokratie leben“ erhält mehr Geld als die Bundeszentrale für politische Bildung

Einfallstor dafür war vor allem die Extremismusprävention unter der Federführung des Familienministeriums. Typisch etwa „Vielfalt tut gut“, ein Programm, das besonders auf jugendkulturelle Wurzeln des Rechtsradikalismus zielte und mit jährlich 24 Millionen Euro für damalige Verhältnisse üppig dotiert war. Ursula von der Leyen (CDU) hatte es 2007 erstmals aufgelegt; danach trug auch Kristina Schröder (CDU) zur staatlichen Förderung der Zivilgesellschaft bei. Ihre 2010 begonnene „Initiative Demokratie stärken“ lenkte die Aufmerksamkeit stärker auf „Linksextremismus“ und „islamistischen Extremismus“. Eine weitere Steigerung des jährlichen Fördervolumens auf 40 Millionen Euro bewirkte dann Manuela Schwesig ( SPD ). Das 2014 vorbereitete Programm „Demokratie leben“ reagierte auf die NSU-Mordserie ebenso wie auf die ersten Pegida-Aufmärsche.

Seither versteht die Bundespolitik den Zulauf zum Rechtspopulismus vorwiegend als Bildungsproblem – darin liegt der gemeinsame Nenner von „Demokratie leben“ und den etablierten Institutionen der politischen Bildung, die im vergangenen Jahrzehnt allerdings weit weniger stark expandierten. Im Haushalt 2024 war „Demokratie leben“ mit 182 Millionen Euro angesetzt und erhält damit deutlich mehr Geld als die Bundeszentrale für politische Bildung . Damit sind die grünen Demokratievorstellungen vom Sommer 1990 amtlich geworden, und mehr noch: Selbst die Form der vom Staat nur noch koordinierten Projektförderung entspricht genau den damaligen Forderungen.

Die Verfechter der direkten Demokratie hatten ebenso wie die heutigen Protagonisten von „Demokratie leben“ einen Bürgertypus im Sinn, den sie für aufgeklärt, kritisch und engagiert hielten. Die damit verbundenen Werturteile waren aber lange gar kein Thema. Auffällig ist etwa, wie wenig politische Wirkung die sozialwissenschaftliche Fachdebatte über die „dunklen Seiten der Zivilgesellschaft“ (Roland Roth) entfaltete. Schon an der Jahrtausendwende deutete sie darauf hin, dass eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegen die Demokratie beispielsweise der Machtübernahme der Nationalsozialisten vorausgegangen sei. Und spätestens mit den Pegida-Aufmärschen hätte eigentlich offensichtlich werden müssen, dass nicht jede Form des zivilgesellschaftlichen Engagements auch als demokratiepolitisch akzeptabel gelten kann. Bei Klimastreik und Bauernprotest trat diese Normativität dann so deutlich hervor wie bei den Demonstrationen der Corona-Leugner oder den Manifestationen des Antisemitismus nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023.

Bis in die Aufgeregtheit der aktuellen Debatte hinein ist eine ideologische Verfestigung der Standpunkte zu beobachten. Im Jahrzehnt steigender Ausgaben für zivilgesellschaftlichen Demokratieschutz ist der Wählerzulauf für Rechts- und neuerdings auch Linkspopulismus ungebrochen, worauf die Verfechter dieses Ansatzes mit weiteren Ausgabensteigerungen reagieren. Die massive Steigerung staatlicher Subventionen führt unweigerlich zu Mitnahmeeffekten, was früh zum Gegenstand der Skandalisierung wurde. Auch gibt es Zweifel an der Wirksamkeit. So monierte der Bundesrechnungshof im November 2022, dass die Programmziele von „Demokratie leben“ zu vage und Wirkungskontrollen deshalb unmöglich seien. Vor allem macht die offensichtliche Normativität dieser Förderformate sie aber zum leichten Ziel politischer Angriffe. Die setzte bereits lange vor den 551 Fragen der Unionsfraktion ein, und bemerkenswert an der aktuellen Zuspitzung ist vor allem, wie sehr sich die Unionsfraktion neurechte Evergreens zu eigen gemacht hat.

Im Ton ist jedenfalls kaum noch ein Unterschied zu erkennen: staatlich finanzierte Propaganda in Tateinheit mit Verharmlosung des Linksextremismus, Verfolgung identitätspolitischer Projekte und einer systematischen Unterschätzung des Islamismus – so steht es sinngemäß in einem neurechten Band über die Bundeszentrale für politische Bildung, der vor 13 Jahren herauskam. Ergänzt man diesen Katalog noch um die angebliche Neutralitätspflicht der politischen Bildung, die ebenfalls seit je zum neurechten Mantra gehört, gelangt man zu jenen Verschwörungsideen vom „Deep State“ der Nichtregierungsorganisationen, welche die Kleine Anfrage der CDU nun ausdrücklich aufgreift. Unter der Masse der 551 Fragen gerät so das eigentliche Problem aus dem Blick: Wenn das Engagement „unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure“ so wichtig ist, wie dies zuletzt der offene Wissenschaftlerbrief konstatierte – warum lässt man dann zu, dass es so wenig Wirkung entfaltet?

Der Autor ist Projektleiter am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Im Herbst erscheint von ihm der Band „Politik der politischen Bildung“ im Wallstein-Verlag.