Rubrik im PS: | Geisteswissenschaften / Gesellschaftswissenschaften / Politikwissenschaften / Bildungswissenschaften |
Autor: | Winfried Gertz |
Auflage: | 4.465 |
Reichweite: | 26.790 |
Ressort: | Special ZEIT & Zutritt Workforce Management |
Recruiting als Nachbarschaftshilfe
Was alle angeht, schrieb Friedrich Dürrenmatt sinngemäß in seiner Tragikomödie "Die Physiker", können nur alle lösen. Deshalb sollte HR bei der Personalplanung den Blick weiten und sich für neue Formen der Zusammenarbeit öffnen.
VON WINFRIED GERTZ
Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation und Wirtschaftsflaute: Trotz des übergreifenden Spardiktats in der Krise suchen Unternehmen nach Möglichkeiten, ihren Personalbedarf nach Kräften zu befriedigen. Ergänzend zu einer intelligenten Workforce-Management-Lösung bietet sich ein weiteres Modell an: Könnte eine bi- oder multilaterale Kooperation mit regional ansässigen Betrieben nicht auch zur Bewältigung des Personalbedarfs beitragen - Recruiting als Nachbarschaftshilfe sozusagen? Nehmen wir Ariane Reinhart, Arbeitsdirektorin der dauerkriselnden Continental, doch beim Wort. Statt "nebeneinander her" zu arbeiten, betonte sie kürzlich bei einer Klausurtagung des Niedersächsischen Kabinetts, müssten Unternehmen nun ihre Kräfte bündeln. "Echte Veränderung gelingt nur im Schulterschluss, auch mit lokalen Arbeitsmarktakteuren."
Kooperationen nicht ohne Tücke
Eine solche Kooperationsidee ist nicht ohne Tücke. Gerade Großunternehmen zieren sich, der Konkurrenz die Tür weit aufzustoßen. Dafür sitzt der Wettbewerbsgedanke einfach zu tief. Auf fruchtbaren Boden fällt die Idee eher im breiten Mittelstand. Hier schließen sich beispielsweise Ausbildungsbetriebe zusammen, um gemeinsam für einen Berufsstart im Handwerk zu werben. Oder sie eröffnen jungen Menschen, die in ihrer Ausbildung verschiedene Betriebe und praktische Anforderungen kennenlernen, wesentlich mehr Einblick in die Arbeitswelt, als es einer herkömmlichen Lehrzeit je möglich wäre. Solche Partnerschaften, schlussfolgert eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) aus dem Jahr 2022, könnten "einiges an Potenzial für die Erhöhung ihrer Attraktivität als Ausbildungsbetrieb bergen". Modelle für personalwirtschaftliche Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg sind querbeet im Land zu finden.
Ein Beispiel ist die Kooperationsinitiative Maschinenbau KIM, in der Unternehmen aus dem Raum Braunschweig zusammenfinden. Die Iniative wurde bei ihrer Gründung im Jahr 2000 mit einer Anschubfinanzierung des Landes Niedersachsen und des Arbeitgeberverbands in Höhe von insgesamt einer Viertelmillion Euro bezuschusst. Inzwischen sind an ihr 26 Unternehmen sowie die TU Braunschweig und die Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften beteiligt. Das Spektrum reicht von kleinen Betrieben mit überschaubarem Personalbestand bis zu großen Firmen mit annähernd 1000 Beschäftigten. Wesentlicher Bestandteil von KIM ist neben dem gemeinsamen Einkauf von Strom und Gas die zwischenbetriebliche Zeitarbeit. Darauf verständigten sich der Arbeitgeberverband Niedersachsenmetall und die Gewerkschaft IG Metall vor 25 Jahren.
Kooperationen gegen den Produktionsausfall
Und dazu gehört ein absolutes Abwerbeverbot, wie KIM-Geschäftsführerin Siw Jung erläutert. "Verliehen", so die einstige Journalistin, die mit einer kleineren Unterbrechung seit 2009 die Geschicke der Initiative lenkt, "wird nur, wer dafür offen ist." Das Risiko, nicht in den angestammten Job zurückzukehren, ist gleich null. Darauf einigten sich die KIM-Mitglieder verbindlich. Doch wie funktioniert zwischenbetriebliche Zeitarbeit eigentlich? Jedes Mal, wenn sich die Geschäftsführer und HR-Verantwortlichen der beteiligten Firmen treffen, erklärt Jung, werde intensiv über personalwirtschaftliche Belange gesprochen. Zum Beispiel, wenn es dringenden Bedarf für eine Fachkraft aus der Produktion gebe: "Hättet Ihr einen Schweißer für uns?" Fallen solche Fachkräfte aus, die derzeit in ganz Europa händeringend gesucht werden, droht kleineren Firmen ein Produktionsausfall. Jung bemüht sich, das zu verhindern, und spricht deshalb potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten gezielt darauf an, ob sie mit einem vorübergehenden Arbeitsplatzwechsel einverstanden wären. "Die größte Entfernung zwischen zwei KIM-Betrieben beträgt nur 70 Kilometer", sagt sie. Daran scheitere es nicht.
Zwischenbetriebliche Zusammenarbeit trage zur Standortsicherung bei und stärke die Bindung von Beschäftigten, ist auf der KIM-Website zu lesen. Wer tarifvertraglich abgesichert Personal branchenintern ver- und entleihe, eröffne den Betrieben und ihren Beschäftigten in hohem Maße Flexibilität und Sicherheit, heißt es in einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen aus dem Jahr 2016. "Flexicurity für alle Beteiligten", erklärte der inzwischen pensionierte Soziologe Johannes Kirsch seinerzeit, könne dem Fachkräftemangel vorbeugen.
Dieses Ziel verfolgen auch Arbeitgebergeberzusammenschlüsse, kurz AGZ, als weiteres personalwirtschaftliches Kooperationsmodell. Sie sind insbesondere in der Landwirtschaft zu finden, wo saisonal bedingter Personalbedarf ziemlich ausgeprägt ist. Doch AGZ haben, zumindest in Deutschland, mit strukturellen Problemen zu kämpfen. Schließen sich Firmen so zusammen, errichten sie eine neue Organisation, die Managementkosten, Lohn und im Unterschied zu französischen AGZ auch Mehrwertsteuer entrichten müssen. So sehr das Modell vor 10 bis 15 Jahren für Aufmerksamkeit sorgte und Betriebe inhaltlich begeisterte - am Ende wurde es den beteiligten Firmen schlicht zu viel.
Zu hohe Hürden
"So wird Arbeitskraft zu teuer", sagt Marion von Chamier, Justiziarin beim Arbeitgeberverband der Westfälisch-Lippischen Land- und Forstwirtschaft in Münster. Erschwerend kommt hinzu, dass der Arbeitsmarkt wenig hergibt für solche Kooperationen. "Arbeitskräfte, die so flexibel sind, für verschiedene Arbeitgeber zu arbeiten", betont von Chamier, "sind kaum zu finden." Deshalb musste auch das hoffnungsvoll gestartete und vom NRW-Landwirtschaftsministerium bezuschusste Projekt des AGZ Soest Ruhr Lippe eG, das rund 60 Mitgliedsfirmen umfasste, vor zehn Jahren den Betrieb einstellen.
Für das Scheitern solcher Kooperationsmodelle macht Sigrid Wölfing primär das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verantwortlich. Für die Mitarbeiterin des Projektbüros tamen in Berlin, das seinerzeit gemeinsam mit wissenschaftlichen Einrichtungen AGZ-Initiativen beriet, gab vor allem die Höchstüberlassungsdauer von anderthalb Jahren vielen AGZ den Todesstoß. "Wenn Mitarbeitende alle 18 Monate ausgetauscht, neu eingearbeitet oder entlassen werden müssen, ist Kontinuität nicht mehr gewährleistet." Der so entstandene bürokratische personalwirtschaftliche Kraftakt habe die Erwartungen der Beteiligten schließlich desillusioniert.
Wissenserwerb und Kompetenzaufbau
Enttäuscht, fast ratlos gibt man sich derzeit auch bei der Waldkircher Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft, kurz Wabe. Noch vor wenigen Jahren hatte das aus einer Kooperation zwischen dem Sensorhersteller Sick AG und der August Faller KG hervorgegangene und durch Spenden finanzierte Projekt viel Zuspruch erfahren. Im Kern handelt es sich um ein Modell der Verbundausbildung von Menschen, die im ersten Arbeitsmarkt kaum Chancen auf eine qualifizierte Ausbildung hätten. Alle drei Monate, so sieht es das Modell vor, wechseln die Azubis in einen anderen Betrieb. Das fördert den Wissenserwerb, stärkt den Kompetenzaufbau und hilft den Azubis, ihren Beruf vor einem immer wieder neuen Hintergrund zu erlernen. Zwar wird von den Teilnehmenden verlangt, in hohem Maße mobil und flexibel zu sein. Dafür greift der Ausbildungsverbund den Azubis unter die Arme, wenn es mal nicht so gut läuft.
Inzwischen liegt das Projekt auf Eis, wie Geschäftsführer Frank Dehring offen einräumt. Und das sei nicht nur Corona geschuldet: "Viele Azubis wurden 2020 aus dem Verbund zurückgeschickt. Aber was sollte mit ihnen geschehen?" Darauf hatte man keine Antwort. Ferner hätten in den beteiligten Betrieben mehrfach neue Ausbildungsverantwortliche ihr Amt angetreten, "mit veränderten Prioritäten", so Dehring. Schließlich mangele es im Arbeitsmarkt an Interessenten für die Ausbildung zum Kaufmann oder zur Kauffrau für Büromanagement. So blieb keine andere Lösung, als den Ausbildungsverbund im letzten Jahr auslaufen zu lassen, so das enttäuschende Fazit des Geschäftsführers. Und das, obwohl noch vor wenigen Jahren ausnahmslos alle Azubis eine Stelle fanden und einige sogar von den Wabe-Betrieben übernommen wurden.
Zur Wahrheit zählt allerdings auch, dass das Wabe-Projekt womöglich in unmittelbarer Zukunft wieder aufleben könnte. Anfragen von interessierten Ausbildungsbetrieben nähmen derzeit zu, sagt Dehring, ein studierter Kaufmann und Sozialarbeiter. So haben seine engagierten Mitstreiter einen ehemaligen Bauernhof zu einem Wohnheim für Auszubildende umgebaut, die es oft von weither nach Südbaden verschlägt und dringend ein Dach über dem Kopf benötigen. Weitere solche Projekte sollen folgen, verspricht der Wabe-Chef.
Treibende Kräfte
Engagierte Persönlichkeiten wie Dehring sind die "Zugpferde" von Ausbildungskooperationen, heißt es in der BIBB-Studie. "Sie holen Betriebe bei ihren spezifischen Interessen und Ausbildungszielen ab und unterstützen bei der Entwicklung passgenauer Lösungen." Von diesem Kaliber ist auch Andreas Fritz, technischer Ausbildungsleiter der Kiesel Gruppe. Ende Januar referierte er auf einer Berliner Tagung über Azubi- und Schülermarketing und wird auch auf dem Personalmanagement-Kongress im Juni über sein Kooperationsprojekt berichten. Rund 40 Auszubildende von Kiesel profitieren nämlich von einer Zusammenarbeit mit dem Motorenhersteller Deutz, die vor drei Jahren begann.
Aggregate von Deutz, sagt Fritz, seien oft in den Baumaschinen von Kiesel verbaut. Doch die aktuell knapp 100 angehenden Mechatroniker für Land- und Baumaschinen wüssten nicht, wie Motorenteile hergestellt würden, obwohl sie selbst den ganzen Tag mit Baumaschinen zu tun haben. Dieser "Blick über den Tellerrand", wie Fritz es nennt, würde den Azubis wertvolles Wissen eröffnen, das sie in ihrer praktischen Arbeit jederzeit nutzen könnten. Konkret sind die Kiesel-Azubis im dritten Lehrjahr für zwei Wochen bei Deutz, um zum Beispiel beim Prüflauf von Motoren detailliert zu erfahren, was ein perfekt arbeitendes Antriebsaggregat auszeichnet und wo es klemmen könnte.
Vom stotternden Wirtschaftsmotor lassen sich die Initiatoren des Projekts jedenfalls nicht behelligen. Im Gegenteil: Die Kooperation aus Kostengründen zu beenden, wäre "fatal", so Fritz. Die betriebliche Ausbildung werde definitiv nicht beeinträchtigt. "Sonst würde uns der Nachwuchs fehlen, zumal der Fachkräftemangel schon jetzt riesig ist." Wer ausgebildet wird, heißt es, könne auf das Versprechen des Arbeitgebers zählen, jeden Azubi zu übernehmen.
Interne Arbeitsmärkte
Um ein Fazit zu ziehen: Trotz der momentan schwierigen Rahmenbedingungen besteht keinerlei Anlass, von den hier skizzierten Kooperationsansätzen bei der Personalplanung Abstand zu nehmen. Und unorthodoxe Formen der Zusammenarbeit bieten sich auch unternehmensintern an. Nach Angaben von Jan-Paul Giertz, im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung für das Referat Personalmanagement und Mitbestimmung verantwortlich, würden Unternehmen die Bedeutung interner Arbeitsmärkte gerade neu entdecken. "In der Krise geht es weniger um Recruiting, sondern um Modelle der Mitarbeitendenbindung. Hier spielt die Musik." Derzeit würden Zulieferer Continental und der Wärmepumpenfabrikant Viessmann in Absprache mit ihren Betriebsräten solche Marktplätze aufbauen, um ihre jeweiligen Restrukturierungspläne sozialverträglich abzufedern.
Ob in Gestalt einer "Jobbörse" oder einer internen Personalvermittlung: Priorität hat, die interne einer externen Personalbeschaffung vorzuziehen und - im Idealfall - je nach Matching mit konkreter Personalentwicklung zu verknüpfen. Dieser Ansatz setzt eine intensive und wirksame Vernetzung zwischen HR und allen übrigen Bereichen voraus. Außerdem ist eines klar: Ohne engagierte Protagonisten - und eine koordinierende Softwarelösung - wird die Idee schnell wieder in der Schublade verschwinden.