Welt Bundesausgabe, Die vom 16.05.2025, S. 2-3 (Tageszeitung / täglich außer Samstag und Sonntag, Berlin)
Rubrik im PS: | Wirtschaftswissenschaften |
Autor: | Kaja Klapsa |
Auflage: | 115.689 |
Reichweite: | 424.579 |
Quellrubrik: | AUF EINEN BLICK |
THEMA DES TAGES
Sollten Patienten bestimmte Medikamente selbst finanzieren?
Die Krankenkassen-Beiträge steigen rasant. Gesundheitsökonom Wasem erklärt Leistungskürzungen für nötig: So könnte man etwa die Finanzierung von Therapien stoppen, die nur wenig Lebenszeit-Verlängerung bringen. Und die Beitragszahler für manches zahlen lassen
Jürgen Wasem, 65, ist Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen und gilt als einer der renommiertesten Gesundheitsökonomen Deutschlands.
WELT: Herr Wasem, gerade ist bekannt geworden, dass das Finanzministerium der gesetzlichen Krankenversicherung kurzfristig mit einer 800-Millionen-Euro-Finanzspritze aushelfen muss. Ist die Lage so dramatisch?
JÜRGEN WASEM: Ja, die gesetzlich vorgeschriebene Mindestrücklage des Gesundheitsfonds, in dem die Beitragseinnahmen der Krankenversicherung gesammelt werden, ist unterschritten. Deswegen muss das Finanzministerium nun vorzeitig 800 Millionen Euro zur Verfügung stellen. In der Koalition scheint damit niemand gerechnet zu haben. Für die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) ist das nach nur wenigen Tagen im Amt eine böse Überraschung. Aber vielleicht führt das Ereignis ja in der Koalition zur Bereitschaft, zeitnah eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung vorzulegen.
WELT: Im Koalitionsvertrag ist dafür lediglich eine Kommission vorgesehen, die erst bis 2027 Maßnahmen vorlegen soll.
WASEM: Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass die Koalition jetzt noch bis 2027 warten wird. Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben geht immer weiter auseinander, die Beiträge steigen jedes Jahr an. Je länger man wartet, desto härter müsste man dann im Nachgang reagieren.
WELT: Welche Maßnahmen würden Sie empfehlen, um die Ausgaben der Krankenkassen zu senken?
WASEM: Angesichts der deutlichen Zunahme älterer Menschen müssen wir – ähnlich wie in der Rentenversicherung – das System demografiefest machen. Mit welchen Instrumenten das erreicht werden kann, sollten wir in der Gesellschaft breit diskutieren, auch mit Blick auf unsere Werte und Ethik. Ich kann Ihnen gerne zwei Beispiele nennen: So könnte es etwa sinnvoll sein, verschreibungspflichtige Medikamente und Hilfsmittel, die relativ preisgünstig sind oder Bagatellerkrankungen betreffen, nicht mehr von den Krankenkassen finanzieren zu lassen, sondern von den Leuten selbst. Auch kann man überlegen, Behandlungen, die sehr teuer sind, aber im Verhältnis dazu wenig nutzen, grundsätzlich nicht mehr zu finanzieren.
WELT: Welche Behandlungen meinen Sie damit?
WASEM: Die Zahlungsbereitschaft für Behandlungen, die nur einen geringen Zuwachs an Lebensdauer mit sich bringen, ist in Deutschland unendlich hoch. Damit meine ich zum Beispiel Krebstherapien, die sechs bis acht Wochen mehr Lebenszeit bringen, aber rund 40.000 Euro kosten. Ich weiß, dass diese Themen ethisch schwierig sind. Aber die Alternative wären Beitragssatzerhöhungen, die der Bevölkerung und der Wirtschaft nicht mehr zumutbar sind.
WELT: Welche Maßnahmen halten Sie in der Pflegeversicherung für notwendig?
WASEM: Hier besteht ja ein politischer Dauerkonflikt bei der Frage, welchen Teil der Pflegekosten die Versicherung zahlen soll und welchen jeder Einzelne selbst oder die Sozialhilfe. Die SPD wünscht sich zum Beispiel eine Deckelung des Eigenanteils bei der Finanzierung eines Heimplatzes, also dass zum Beispiel alle Kosten über 1000 Euro von der Versicherung getragen werden. Ich verstehe den Grundgedanken, bin aber bei der Umsetzung sehr skeptisch. Denn angesichts unserer demografischen Entwicklung würde dies zu exorbitant hohen Kosten führen, die die Pflegeversicherung nicht tragen kann. Deswegen muss man entweder hinnehmen, dass die Eigenanteile steigen, oder stattdessen einen neuen Finanzierungsweg einschlagen.
WELT: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat eine verpflichtende Pflegezusatzversicherung vorgeschlagen.
WASEM: Ja, das ist eine gute Idee. Wir müssen weg vom Umlageverfahren hin zur Kapitaldeckung. Junge Menschen würden dann im Rahmen der Versicherung für das Risiko der stationären Pflegebedürftigkeit im Alter ansparen.
WELT: Allerdings würde das Instrument jetzt noch keinerlei Entlastung schaffen.
WASEM: Ja, der volle Charme des Modells entwickelt sich erst in der Zukunft. Aber wir brauchen auch langfristig orientierte Lösungen und können nicht immer nur die kurzfristigen Finanzlöcher stopfen. Man kann sich außerdem auch Übergangsmodelle für die älteren Erwerbstätigen und Rentner überlegen, bei denen nur begrenzt zusätzlich angespart wird und demnach auch die Leistungen begrenzt sind.
WELT: Dieser Tage wird auch ein Dekret von US-Präsident Donald Trump diskutiert, das die Medikamentenpreise in den USA senken soll. Experten warnen vor den Folgen für Deutschland und Europa. Womit rechnen Sie?
WASEM: Das ist ein ganz wichtiges, schwieriges Thema. Man muss Trump insofern recht geben, als die Pharmaunternehmen heute tatsächlich ihre Gewinne und die Refinanzierung ihrer Forschungsund Entwicklungskosten deutlich überproportional in den USA holen. Die Arzneimittelkosten sind dort zwei bis drei Mal so hoch wie bei uns, teilweise sogar noch höher. Wenn die USA jetzt Ernst machen damit, künftig nicht mehr zahlen zu wollen als Europa, dann werden die Pharmaunternehmen zwingend höhere Preise in Europa durchsetzen müssen.
Wenn sie das nicht können, werden sie sich überlegen, ob sie ihre Arzneimittel entweder deutlich später oder gar nicht mehr auf den deutschen Markt bringen.
WELT: Wie sollte die EU jetzt aus Ihrer Sicht reagieren?
WASEM: Auf Europa kommt jetzt eine ganz schwierige Herausforderung zu, bei der wir uns fragen müssen: Sind wir bereit, deutlich höhere Preise für Arzneimittel zu zahlen, oder sind wir bereit, in Kauf zu nehmen, dass es eine Reihe von Medikamenten nur noch in den USA gibt? Da Trump auf Europa insgesamt zielt, wäre eine gemeinsame europäische Strategie sinnvoll.